Drei Zeitzeugen über Andeer

Leonhard Ragaz

«Das Dorf Andeer, das grösste der Talschaft Schams, überrascht den Wanderer im Hinaustreten aus der dunkeln Rofla durch seine schönen es umgebenden Wiesen und durch seine freundlichen Wohnungen. Andeer 3200 Fuss über dem Meere ist ein ansehnliches Dorf am Fusse des «Piz la Tschera» mit 550 Einwohnern, die romanisch sprechen und sich zur reformierten Konfession bekennen. [1]

Die Lage des Dorfes ist nicht besonders günstig, denn es ist stets in Gefahr von den reissenden Wellen des Rheins fortgerissen zu werden.

Andeer erfreut sich eines gemässigten Klimas. Getreide wird fleissig angebaut. Citronen und Pomeranzen findet man keine. Diese werden durch die allgemein geschätzten Erdäpfel ersetzt.

Die Hauptbeschäftigung der Bewohner ist Viehzucht und Ackerbau. Das fehlende Getreide wird aus Italien bezogen.

Handel wird eher wenig betrieben. Eine Fidelenfrabrik hat geringen Absatz und eine Eisenschmelze ist seit zwei Jahren stillgelegt. Diese Anlage gab hinlänglich Arbeit und war gewissermassen eine «Goldgrube» für das Tal, obwohl nur Eisen gewonnen wurde.

Ein Teil der Männer gibt sich mit Warentransport nach Chur oder Splügen ab. Früher zog man daraus bedeutenden Gewinn. Man mag sich fragen, weshalb hat sich dies geändert?

An gewichtigen Bauten ist das Dorf nicht reich. Eine einfache Kirche und ein im Bau begriffenes Schulhaus sind die bedeutendsten Gemeindebauten. Anderseits gibt es eine Anzahl schöne ältere aber auch neulich aufgeführte wohn- und Gasthäuser, wie z.B. das im Jahre 1828 erbaute, geräumige Wirtshaus «Krone» mit dem eisenhaltigen aber wenig besuchten Bade, mit dem es verbunden ist. Auch hat das Dorf eine mit steinernen Platten belegte Strasse, die durch die ganze Ortschaft führt und wie eine Eisenbahn ist.

Für die Schule wird seit einigen Jahren eifrig gesorgt, wobei die Anstellung tüchtiger Lehrer ein Hauptanliegen ist. Auswärtige Schulanstalten besuchten die Jünglinge unseres Dorfes selten, aber dies scheint mit der Zeit besser zu werden.

Die Jugend steht auf einer mittleren Bildungsstufe. Alle zwei Jahre bei der Besetzung der Obrigkeit finden Bälle statt, die aber zu lange dauern und für manchem von Nachteil sind. [2] Eine andere keineswegs lobenswerte Sitte, die aber auch andernorts vorkommt- ist das nächtliche Herumschwärmen der Knaben und Jünglinge.

Im Allgemeinen ist Andeer ein glückliches Dorf. Der Mittelstand ist vorherrschend. Die meisten besitzen, was sie zum Leben gebrauchen und sind damit zufrieden. Sittenlosigkeit und Zerwürfnisse sind kaum anzutreffen und somit kann man das Dorf glücklich nennen.»

Donatus Joos

Vier Jahrzehnte später wird von anderer Seite geschrieben:

Donat Joos, Carolina Joos und Töchter Frieda und Marta

«Am Sonntag den 14. Juni 1891 nahm ich die Frühpost nach Andeer. Es war ein heiterer, aber kalter Morgen. Schneeweisser Reif lag über Wald und Flur. Schon vor 9 Uhr sah ich meine alte Heimat aber wie viel anders. Das Mineralbad sah vergrössert aus und überall auf allen Plätzen und Wegen sieht man, dass Andeer ein Kurort geworden ist.» [3]

Das «Allgemeine Fremdenblatt» 1907

«Eine halbe Stunde von Zillis, am Fusse des «Piz la Tschera» liegt Andeer, ein stattliches, massiv gebautes Dorf, mit erhöht gelegener Kirche.

Andeer ist Luft- und Badekurort zugleich und wurde schon seit vielen Jahren gut frequentiert. Neben der Kirche erhebt sich das Hotel «Fravi», nunmehr ein imposanter weithin sichtbarer, gefälliger Bau. Das schon 1828 erbaute Hotel ist im letzten Winter nicht nur um zwei Stockwerke erhöht, sondern total umgebaut und mit den modernsten Einrichtungen, wie Lift, Zentralheizung, elektrisches Licht etc. versehen worden. Zum Hotel gehören auch die Bäder, die von der eisenhaltigen Gipsquelle in Pignia gespiesen werden, sodann ein schöner Park und prächtige Gartenanlagen. Die Mineralquelle von Pignia genoss, ihrer Heilwirkungen wegen, von jeher beim Volke einen guten Ruf.

Tritt man vom Bogen, der die beiden älteren Häuser verbindet und sich wie eine Art Stadttor ausnimmt, hindurch, so gelangt man zum Hotel «Sonne», einem ebenfalls alten Gasthofe, der auch schon zur Zeit des grossen Transitverkehrs regen Zuspruch hatte und sich seither für die moderne Fremdenindustrie einzurichten wusste. Nach wenigen Schritten ist man auf dem sogenannten Dorfplatz, der von einigen uralten Häusern eingerahmt wird und mit dem grossen Granitbrunnen ein ländlich – idyllisches Bild darbietet.

Vom Dorfplatz führt eine Strasse zur Rheinbrücke und hinüber zur «Pension Beverin» (Mulegn) Genau mitten im Dorfe steht das neue, nach den Grundsätzen der Heimatschutzbestrebungen anno 1905 erbaute, schmucke Posthaus mit grossem Vorplatz und gegenüber das ebenfalls neue, eine Hufeisenform bildende Café Restaurant «Splügen», das über prachtvolle Lokalitäten und einige schöne Fremdenzimmer verfügt. Der im Chalet Stil gehaltene Neubau ist sehr originell und der Natur angepasst.» [4]

  1. Aus einem Aufsatzheft meines Grossvaters, Leonhard Ragaz von Andeer, der 1848 als Seminarist auf der Kantonsschule war. Seine negative Beurteilung sowohl des Badebetriebes wie auch der wirtschaftlichen Lage ist richtig. Es herrschten damals böse Krisenzeiten.
  2. Diese Bemerkung ist wohl zutreffend, weil gar oft zwei ja sogar drei Nächte nacheinander getanzt wurde.
  3. Auszug aus der Chronik von Donatus Joos. Er besuchte anno 1891 sein Heimatdorf Andeer zum letzten Mal.
  4. «Allgemeines Fremdenblatt» Nr. 15 vom 3. Aug. 1907. «Die Kurorte des Schamsertales» (Verfasser nicht angegeben.)

    Der Berichterstatter beanstandet, dass der grosse Brunnen nur durch einen aussen am Brunnen aufgestellten gusseisernen Brunnenstock seit längerer Zeit mit Wasser gespiesen werde. Glücklicherweise sei aber der granitene, prächtige Brunnenstock in der Mitte des Beckens wieder zu Ehren gezogen und das gusseiserne Unding beseitigt worden. Auf einer hier folgenden Abbildung ist der kritisierte Zustand des Brunnen deutlich erkennbar.