Die Auswanderung nach Übersee

Nordamerika

Familie Steiner-Joos in den USA. Ganz Rechts sitzend ist Anna-Barbla Joos. Sie wanderte im Jahre 1849 in die USA aus.

Die neuen Erdteile Amerika und Australien waren schon längst entdeckt. Von einer Auswanderung aus unserer Gegend dorthin, kann erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden.

Die Gründe, die zur Auswanderung trieben, waren vielfach die gleichen wie früher. Die Erwerbsmöglichkeiten im eigenen Lande waren beschränkt und die Bevölkerung nahm zu. Fremde Kriegsdienste waren nicht begehrt und wurden, wenn auch mit reichlicher Verspätung, dann auch verboten. Manche lockte die Abenteuerlust und das Verlangen, reich und bewundert heimkehren zu können. Zwistigkeiten, Enttäuschungen und Herzschmerz mögen viele zum Wanderstab getrieben haben und andere wurden einfach weggeekelt.

Das Auswandern nach Übersee war aber keineswegs ein einfaches und gesichertes Unterfangen. Führende Männer in Andeer waren sich der Gefahren für die Auswanderer bewusst und setzten es durch, dass die Gemeinde vorsorgte. Gewissermassen als Kundschafter entsandte sie auf ihre Kosten Ing. Curdin Hoessli nach Amerika, welcher an Ort und Stelle die vorteilhaftesten Ländereien besichtigte.

Die Gemeinde nahm Beziehungen zu Ausreiseagenturen auf und bezahlte Beiträge an die Reisekosten, die abgestuft waren nach der wirtschaftlichen Lage der einzelnen Auswanderer. Des Weiteren wurde ein guter Reiseführer bestellt und der Schar, die nach Amerika reiste,  wurde bis Chur spesenfrei transportiert, samt Hab und Gut. [1]

Im Frühjahr 1849 verabschiedeten sich zu verschiedenen Daten 54 Einwohner von Andeer, um nach Amerika zu reisen. Darunter waren nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ganze Familien. [2] Es braucht keine grosse Vorstellungskraft, um sich ein Bild der Abschiedsszenen zu machen, welche das ganze Dorf tief bewegten.

«Der zweite Donnerstag nach Ostern, am 19. April war ein Tag der Tränen für die ganze Gemeinde. Es war nämlich der Abschiedstag von etwa drei Dutzend nach dem fernen Amerika auswandernder Mitbewohner, worunter drei ganze Familien. Auch zwei meiner Brüder zogen mit». [3]

Wohl niemand ahnte damals, welche Ausmasse die Übersiedlungen nach Übersee annehmen und welche die Folge für unser Dorf und Tal sein würden. Die letzte Auswanderergruppe nach Nordamerika verliess die Heimat im Jahre 1920, also 71 Jahre später als die erste.

Während die Auswanderer der ersten Zeiten sich in den zentralen Gebieten der Vereinigten Staaten von Nordamerika ansiedelten, steckten die nachfolgenden Amerikafahrer ihre Reiseziele viel weiter, nämlich bis nach Kalifornien, Montana und Columbia.

Australien

Die Auswanderung nach Australien setzte bei uns im Jahre 1856 ein und gleich die erste Auswandererwelle umfasste 61 Personen einschliesslich Teilnehmer aus anderen Dörfern.

Andreas Ragaz, Frau Maria geb. Plier und Töchter. Australien ca 1900

Die Auswanderung nach Australien und Neuseeland kann zahlenmässig nicht mit derjenigen nach Nordamerika verglichen werden. Sie fand auch nach wenigen Jahrzehnten ihren Abschluss. Richard Ragaz, der Bruder meines Vaters Ivan, dürfte im Jahre 1890 der letzte Australienfahrer aus unserem Dorfe und Tal gewesen sein. Er kehrte allerdings nach ein paar Jahren wieder zurück.

Zwei Merkmale kennzeichnen besonders die Emigration nach Australien. Es ist einmal die Tatsache, dass fast nur Männer dorthin zogen. Nur drei Frauen aus dem Schams, soweit dies festgestellt werden konnte, haben sich im kleinsten Erdteil angesiedelt. Des Weiteren sind von dort verhältnismässig mehr Rückwanderer zu verzeichnen als von Amerika.

Die von den Auswanderern in die alte Heimat überwiesenen oder auch selbst mitgebrachten Ersparnisse, wurden vorteilhaft verwendet, sodass mancher überschuldete Bauernhof gerettet werden konnte. Ja, der heutige Wohlstand einzelner Familien in Schams ist dem Fleiss und der Ausdauer einstiger Amerikafahrer zu verdanken.

Noch etwas über die Beziehungen zu den ausgewanderten Landsleuten: Ein brieflicher Verkehr zwischen Ausgewanderten und zurückgebliebenen war meist vorhanden. Besonders nachhaltig wurden aber die Verbindungen zur alten Heimat durch die zahlreichen Besucher aus Amerika aufgefrischt und gefestigt.

Mein Vater, Ivan Ragaz, der 37 Mal den Ozean per Schiff überquerte, nahm jede Gelegenheit wahr, um die Landsleute aus Schams namentlich in Los Angeles, Bakersfield, San Francisco und Montana zu besuchen. [4]

Zufallsbild: Auswanderer und deren Nachkommen
Ursalina Janett, Zittau, Deutschland

Allenthalben wurde er ungeduldig erwartet und sehr gastfreundlich empfangen. Seine Erzählungen über die alte Heimat fanden willige Ohren und da sein Gedächtnis tadellos war, konnte er viele interessante Begebenheiten zum Besten geben. Wieder Heimatboden unter den Füssen, wollten die hiesigen Verwandten und Freunde der Ausgewanderten genau wissen, was er von drüben zu berichten wisse. Oft übernahm er die Aufgaben eines Kuriers und erfüllte allerlei Anliegen und Wünsche.

Heute sind die Kontakte zwischen den ausgewanderten Andeerern oder ihrer Nachkommen und ihren Verwandten in der alten Welt zumeist abgebrochen. Man hat sich inzwischen auseinandergelebt und vielfach fehlt die gemeinsame Sprache.

Es gibt aber noch gelegentliche gegenseitige Besuche. Vielfach sind die Nachkommen der Auswanderer auch sehr an der Erforschung ihrer Familiengeschichten interessiert. So treffen gelegentlich Anfragen bezüglich ausgewanderter Vorfahren ein. Familienforschung ist in den USA ein weitverbreitetes Hobby.

Ein Nachkomme der vor bald 140 Jahren ausgewanderten Anna Barbla Joos (verh. Steiner) schrieb, dass sein Grossvater noch bis zehn auf romanisch zählen konnte. Derselbe habe auch immer für «pan cun pera», (Birnbrot) «biscutins» (eine Art Schildbrot und «pet’an pegna» (Ofenkuchen) geschwärmt und bedauert, dass es diese guten Sachen drüben nicht gebe.

Es folgt hier die Kopie des im Jahre 1849 von den ersten Auswanderern aus Andeer verwendete Reisevertrag mit der Reiseagentur F. Hecking in Zürich, vertreten durch R. Pedolin in Chur.

Reisevertrag nach Übersee aus dem Jahr 1848
Reisevertrag
Reisebericht von Harris Franklin Rall aus dem Jahr 1899
Beschreibt seinen Aufenthalt in der Schweiz und speziell in Andeer (Englisch)
Harris Franklin Rall, ein Nachkomme von Anna Barbla Joos
  1. Da die Gemeinde nicht über die notwendigen Mittel verfügte, nahm sie ein Darlehen von 3000 Gulden bei Polizeidirektor Paul Janett von Langwies und 1500 Gulden bei Lehrer Gredig in Zuoz auf.
  2. Ein ausführlicher Bericht über die Auswanderung aus Schams steht im Heimatbuch von Dr. B. Mani.
  3. Aus der Lebensbeschreibung von Donatus Joos, Andeer.
  4. Ivan Ragaz ist im Jahre 1894 mit 23 Jahren nach Kalifornien und später nach Mexico ausgewandert. Er starb dort im Jahre 1940.

Mehr Informationen zu verschiedenen Familien aus Andeer finden sie auf der Genealogie Seite der Familie Raga(t)z.