Die Knabenschaft

Die Ziele der Knabenschaft (Cumpagneia da mats) waren recht hochgesteckt, nämlich für Sitte und Moral zu sorgen, den Zusammenhang der Jugend zu pflegen, gemeinnützige Werke auszuführen usw.

Die Insignien dieses Vereins sind die Fahne und der Bändelbesen (scua da pindels) Als drittes war früher noch eine Trommel. Eine solche wurde 1849 angeschafft, was aber nicht ausschliesst, dass die Gesellschaft schon früher eine besass.

Eine Fahne wird erstmals 1835 erwähnt, spätere Neuanschaffungen 1871, 1907 und neuerdings ist der Erwerb einer vierten Fahne erfolgt. Entstehung und Alter des Bändelbesens sind nicht bekannt. In den Vereinssatzungen ist schon 1866 davon die Rede.

Die auf das Jahr 1810 zurückreichenden Vereinsstatuten sind romanisch abgefasst, diejenigen von 1834 und spätere deutsch. [1] Über den Inhalt derselben und über die Tätigkeit der Knabenschaft kann hier nur in Kürze berichtet werden. [2]

Gewiss enthielten die Satzungen der Knabenschaft, wie oben bereits angedeutet, manche lobenswerte Vorschrift, aber diese wurden durchaus nicht immer befolgt. Das Treiben artete oft in Saufgelage und Schlägereien aus. Auch die polizeilichen und richterlichen Befugnisse, die die Knabenschaften sich anmassten, wurden zwar in früheren Zeiten behördlicherseits gern oder ungern meist hingenommen, stiessen aber im Volke auf immer grössere Abneigung.

Auch im sonst friedlichen Schamsertal boten die Landsgemeinde oder anderweitige Anlässe rauflustigen Gesellen die willkommene Gelegenheit, ihre Kräfte zu messen.

Vor ruppigen Auseinandersetzungen zwischen der Knabenschaft Andeer und Männern aus Ferrera wurde früher oft berichtet. Einmal sollen die Ferrerer, die auf der linken Rheinseite zur Landsgemeinde marschierten, auf Provokationen und Sticheleien der Jungmannschaft aus Andeer, die auf der Landstrasse marschierte, kurzerhand beim «Bogn» den Rhein durchwatet haben. Eine böse Keilerei sei dann ausgebrochen.

Eine bodenständige Frau aus Ferrera, über die zahlreichen Schlägereien früherer Zeiten befragt, erklärte:

«Wenn die Männer übel zugerichtet mit blutigen Köpfen und zerschundenen Leibern nach Hause kamen, achtete niemand darauf am wenigsten die Frauen dieser Männer. Sie waren daran gewöhnt.»

Heute geht es an der Landsgemeinde (cumegn) gesitteter zu und her. Dies ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass sich die heutigen Bürger Gewalttätigkeiten lieber am Fernsehen anschauen, als selber daran teilzunehmen.

Das ausgelassene, ja oft Ärgernis erregende Verhalten der Knabenschaft, hatte zur Folge, dass mancher Bursche auf eine Mitgliedschaft verzichtete.

Ein Zeitgenosse schreibt:

«Lustig in Ehren kann Niemand verwehren führt dazu, dass sehr vieles erlaubt wird. Ich war in dem Alter, in welchem jeder Jüngling sich in den Burschenverein aufnehmen lassen musste, um sich nicht der Geringschätzung und dem Spott seiner zahlreichen Mitglieder preiszugeben. Die Burschen, die das nicht taten, wurden als Sonderlinge angesehen und nirgends in ihrer Gemeinschaft gelitten. Ohne einer erklecklichen Gabe an Geld durfte niemand ausser den Mitgliedern an den Schlittenpartien, Tanz und anderen Belustigungen teilnehmen, deren Kosten die Vereinskasse, soweit es langte, bestreiten musste, die freilich noch andere Einnahmequellen hatte als bloss das Eintrittsgeld. Jeder fremden Hochzeit wurde zugemutet, dass sie einige Taler in den löcherigen Beutel der Knabenschaft werfe. [3] Wo der Verein Ehestreitigkeiten witterte, schlug er sich zum Schlichter und Richter vor, wofür aber von den betreffenden Eheleuten keine geringe Forderung an Geld gemacht wurde. Im Verweigerungsfalle wurden die Betreffenden «ausgeschellt» d.h. mit Glocken und Schellen wurde im Dorfe herum Lärm gemacht. Zu diesen Prozeduren hatte jedes Vereinsmitglied unter Strafandrohung zu erscheinen.» [4]

Ausgesprochen erfinderisch war die Knabenschaft, um sich durch allerhand Tricks und Vorschriften Geld zu beschaffen. Umfassend war deshalb der Bussenkatalog. Verboten war das Fluchen, die Verwendung von Übernamen, die üble Nachrede, unfreundliches Benehmen usw. Wer den obligaten Kirchenbesuch versäumte, musste zahlen, ebenso wer sich in der Kirche unschicklich benahm z.B. wer dort einschlief. Die Mädchen, obwohl diese nicht Mitglieder der Gesellschaft waren, wurden ebenfalls mit Bussen belegt, welche aber der Bursche zu begleichen hatte, welchem gemäss Verlosung das Mädchen zugeteilt worden war. Für jedes Mädchen «vugadessa» genannt, hatte ein Knabe eine gewisse Verantwortung zu übernehmen, jeweils für die Dauer eines Jahres. Knaben oder Mädchen, die sich Verfehlungen zu Schulden. kommen liessen, konnte in gewissen Fällen das Recht entzogen werden, im Chor der Kirche Platz zu nehmen. [5]

Als eher harmloser Spass muss hingegen die Bussverfügung gegen eine Frau verstanden werden, weil dieselbe ihre Fensterläden grün gestrichen hatte, was als ein Zeichen von Hoffart zu rügen und bestrafen sei. Zur damaligen Zeit hatte wohl noch niemand im Dorfe die Läden angestrichen.

Weniger glimpflich ging es zu, wenn lästernde Fuhrleute zur Rechenschaft gezogen wurden, auch wegen Misshandlung der Pferde. Hin und wieder versteckten sich Burschen bei der Brücke im «Bogn», weil sie beim dortigen Anstieg damit rechnen konnten, dass die Peitschenhiebe allzu reichlich fallen und die müden Zugtiere mit Schimpfworten angespornt würden.

Hotel Fravi und die reformierte Kirche ca 1840

Das wichtigste Anliegen der Knabenschaft war wohl, das Zusammenleben der Dorfjugend nach der Schulentlassung zu fördern. Besonders gerne erinnerten sich unsere Altvorderen an die grossen Dorfbälle, die für die ganze Bevölkerung ein freudiges Ereignis waren. Die Tanzanlässe zwei bis vier im Jahre wurden im Hotel «Krone» (späteres Hotel Fravi) durchgeführt. Als Spielleute wurden mit Vorliebe die «Wallenstädter» verpflichtet, die während vielen Jahren nach Andeer kamen.

Zu kleineren Tanzbelustigungen, wobei ein Einheimischer aufspielte, versammelte sich die Jugend in der sogenannten alten Metzgerei. Der dortige quadratische Raum war während vielen Jahren der beliebte Treffpunkt der ledigen Leute, also eine Art Jugendzentrum.

Die sog. alte Metzg. Das Lokal im ersten Stock diente vor mehr als 100 Jahren als Treffpunkt der Jugend.

An die Landsgemeinde marschierte. die Knabenschaft geschlossen mit flatternder Fahne. Seit 1850 wurden auch die Mädchen dazu eingeladen.

Hin und wieder erfüllte die Gesellschaft der Burschen auch gewisse Arbeiten im Interesse des Dorfes wie das Reinhalten der Brunnen, die Besorgung des Feuerwehrdienstes etc. Älteren Leuten wurde das Brennholz etwa aufgearbeitet oder die Einzäunungs-Pflicht übernommen.

Eine Eigenart war sodann die, dass Burschen zu gesellschaftlichen Anlässen gleich zwei Mädchen einluden. Das Aufkommen dieses Brauches ist erklärlich. Infolge Abwanderung vieler lediger Männer wurden die Mädchen in die Mehrheit versetzt. Damit aber alle Dorfschönen an den Vergnügungen der Jungmannschaft teilnehmen konnten, war die Einladung von zwei Mädchen für viele Burschen ein Gebot des Anstandes und der guten Kameradschaft. Anno 1854 wird die Mitgliederzahl der Knabenschaft mit 92 angegeben, wovon aber 32 ausgewandert waren. Mädchen, die zur Landsgemeinde eingeladen wurden, schenkten dem Burschen als Zeichen der Anerkennung ein selbstverfertigtes Hemd.

Seit 1894 findet die Generalversammlung der Knabenschaft am St. Stephanstag, also am 26. Dezember statt. Bei diesem Anlass wird der Vorstand bestellt. Sodann werden neue Bewerber in den Verein aufgenommen. Nach alter Überlieferung muss jeder Neuling drei Mal über den Bändelbesen springen. [6] Auch anders geartete Innungen kennen derartige Prozeduren. Einstens wiesen sogar die kleinen Gemeinden wie Clugin, Ferrera, Pignia usw. Knabenschaften auf. Diese sind aber längstens verschwunden. [7]

  1. Meines Wissens sind die alten Statuten nicht mehr aufzutreiben, weil sie offenbar von einem ehemaligen Dorfschullehrer behändigt und nicht mehr zurückerstattet worden sind.
  2. Vergl. Gian Caduff «Die Knabenschaften Graubündens» und die Abhandlung von Christian Christoffel «Die Knabenschaften und ihre Sittengerichte». (Annalas della Societad Retoromontscha Bd. XII)

    In diesen beiden Veröffentlichungen wird die Knabenschaft Andeer weitgehend berücksichtigt.

  3. Auf dem Kirchweg wurde bei Hochzeiten aus alten verrosteten Böllern, Pistolen oder Musketen geschossen Durch Unvorsichtigkeit wurde manche Schreckensstunde hervorgerufen. (gemäss Bericht von Pfarrer Matli Conrad) Die Burschen, die die Waffen bedienten, waren meist schon angeheitert, oft auch betrunken. Noch zu meiner Jugendzeit lebten mehrere ältere Männer im Dorfe, die sich beim Hochzeitsschiessen an den Händen Verletzungen zugezogen hatten.
  4. Das «Ausschellen» wurde in Andeer vor 100 Jahren letztmals getätigt. Als die johlende Jungmannschaft vor das Haus der entzweiten Eheleute erschien, drohte der aufgebrachte Ehemann mit dem Jagdstutzer. Damit hatte es sein Bewenden. Im erwähnten Falle hatte der Gemeindevorstand auf Anfrage der Knabenschaft dieser das «Ausschellen» erlaubt, aber das sonst übliche Ausrufen der Namen der schuldigen Eheleute verboten.
  5. Die schulentlassene Jugend belegte stets den Chor Tarmegna in der Kirche, was die Kontrolle ihrer Anwesenheit sehr erleichterte.
  6. Der Bändelbesen (la scuva) ist ein Stab an dessen einem Ende viele bunte Bänger befestigt sind. Jeweils bei der Einladung zum St. Stephansball, welche von Haus zu Haus erfolgt, heftet jedes Mädchen ein Bändel an den Besen als Beweis, dass es die Einladung angenommen hat.
  7. Am Schamserberg sowie auch neulich in Zillis umfassen die heutigen Vereinigungen Mädchen und Knaben. Auch die Zielsetzung ist dadurch eine etwas andere geworden.