Das Bergheuet

Einige Zeit im Hochsommer verbrachten die Talbewohner des Heuens wegen in den Bergen. Das Heu wurde auf einen Schlitten geladen und mit einem dazu geeigneten, gut dressierten Pferde oder Ochsen nachmittags ins Tal geführt, letzteres wurde auch etwa durch Kinder verrichtet.

«Meine erste Bergheufahrt hätte aber unglücklich werden können. Ich war schon beinahe am Ziel. Nur noch eine kleine Viertelstunde und wir sind unten, sagte vergnügt mein älterer Bruder, der mit einem zweiten Fuder hinter mir her kam und schon wollte ich mich, der glücklichen Fahrt freuen, als Ross und Ladung über die Böschung stürzten und den steilen Abhang hinunter rutschten. Zum Glück kamen sie so an einen Tannenbaum, dass sie sich – die Ladung und das Pferd – gegenseitig die Waage hielten. Wir wussten nichts Besseres zu tun, als zu greinen, dem Tier des Strampelns wegen des Kopfs niederzuhalten und so zu warten, bis die Bergheuerkarawane, worunter auch Erwachsene sich befanden, wieder vom Dorfe herauf zurückkehrte. Mit grosser Anstrengung gelang es mit vereinten Kräften das Ross wieder auf die Beine und den Schlitten samt Ladung auf den Weg zu bringen. Mich wollten die Helfer fast auseinandernehmen. Hingegen machte sich der Vater weniger daraus, als ich mir dachte, denn er war froh, dass wir ohne Schaden davongekommen waren. Aber es vergingen mehrere Tage, bis er wieder wagte, den Frechdachs, wie er mich nannte, mit Heu fahren zu lassen». [1]

Auf den Bergen zur Heuenszeit [2]

«Der Mond war schon mit seinem bleichen Gefolge am Himmel verschwunden, die ersten Farben der Morgenröte fingen an emporzusteigen, als ich das warme Bett verliess, mich mit dem Steinfass umgürtete, die Sense auf die Schulter warf und noch trüben Auges mit meinem Vater und dem Knecht den Berg hinan wanderte. Unser Nachbar hatte auch schon sein Lager verlassen, mit seinem Feldgerät sich beladen und den Weg zu seiner Bergwiese angetreten. Auf einem kleinen Hügel stiessen wir zueinander und grüssten uns mit einem «guten Morgen» (bun gi), seid ihr auch schon wach? Gemeinsam unter mancherlei Gesprächen, besonders politischen Inhalts, wobei die Besorgnis ausgesprochen wurde, Italien werde sich wohl dem Joche Österreichs beugen müssen, Sizilien die errungene Freiheit wieder verlieren, Frankreich durch Bürgerkriege gewaltig erschüttert werden, setzten wir unseren Weg ungefähr eine Viertelstunde fort und trennten uns alsdann, indem ein jeder Teil auf seine Wiese sich begab.

Allmählich verliessen die fahlen Schatten das Tal, über den Gipfeln der Berge erhoben sich kleine Wolken, die wieder verschwanden, indessen ragten die Bergspitzen beleuchtet empor, als die nahende Königin des Tages sich ankündigte. Die Blumen entfalteten ihre letzten Blätter, die Tautropfen glänzten wie kostbare Perlen, die ganze Schöpfung fühlte die Gegenwart der lieben Sonne. Das vor kurzem noch im Schatten gehüllte Tal öffnete sich dem Auge wieder und die Blicke des Naturbetrachters streiften frei auf den entferntesten Gebirgen umher. Während dieser Naturveränderung rauschten unsere Sensen beständig durch das niedrige Gras, überall das Leben abschneidend, keine uns zuwinkende Blume verschonend. Welch reichen Stoff hätte hier der Botaniker gefunden?

Von Zeit zu Zeit fand meine Sense starken Widerstand, indem ich unvorsichtig mit ihr Steine schneiden wollte, wofür ich gebührlich bestraft wurde.

Nach langem Warten langten unsere Mägde endlich mit dem Morgenessen an, es bestand aus den auf den Bergen üblichen Tracht: Reissuppe, Speck und Knollen (gnocs da culm) Der tätigste Arbeiter war nunmehr ich: das fortwährende Mähen war der beste Koch für mich gewesen. Nach dem Essen gingen wir mit neuen Kräften wieder an die Arbeit. Die anfangs angenehmen Sonnenstrahlen wurden immer brennender, doch endlich hatte die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht. Wir legten die Sensen von der Hand und ergriffen die Rechen. Das am vorangegangenen Tage gemähte Gras wurde zusammengebracht und der Sonne zum Dörren überlassen.

Nun wurde Tisch gedeckt: wir brauchten aber weder Tisch noch Sessel und setzten uns im Kreise auf den grünen Rasen. Aufgetragen wurde Milch, Brot und Käse.

Während wir unser einfaches Mittagessen verzehrten, hörten wir singen und jodeln. Es waren zwei Tschappiner, die Mähder waren, nun aber von der hohen Regierung in Dienst berufen wurden, um flüchtende Italiener durch den Kanton zu eskortieren. Fröhlich hatten sie die Sense verlassen und beeilten sich ihren Vorgesetzten zur Verfügung zu stellen.

Indessen langte mein kleiner Vetter, [3] ein munterer Knabe von 8 Jahren, mit dem Pferde und Schlitten an. Auch er erfrischte sich. Dann wurde das Heu auf den Schlitten geladen, um es ins Dorf fahren zu können. Nach grosser Mühe war das Fuder endlich vollendet und das Pferd an den Schlitten gespannt.

Für diesen Tag des Mühens satt, ergriff ich die Zügel und fuhr ganz stolz den Berg hinunter.

Da der Weg ziemlich schlecht und ein so genannter Hohlweg war, kippte das Fuder ein paar Mal gegen das Bord, was mir und meinen Gefährten aber nur lustig vorkam, obwohl wir unsere Kräfte anstrengen mussten, um den Schlitten wieder in seine richtige Lage zu bringen.

Schon neigte sich die Sonne ihrem Untergang zu, die Luft fing an kühler zu werden, als ich das Dorf Andeer wieder verliess, wo ich inzwischen das Heu abgeladen hatte.

Langsam schritt ich, mit meinem Wanderstab in der Hand, hinter dem Schlitten her. Die Sonne war untergegangen, die noch leuchtenden Spitzen der Berge verloren sich nach und nach in der Dunkelheit. Die Vögel verstummten mit ihrem Gesang und suchten ihre Nester auf. Die Abendglocke ertönte vom Tale herauf, während ich mit meinem Pferde ganz allein bei herrlichem Mondschein den Berg hinanwanderte. Am Ort meiner Bestimmung angelangt, führte ich das ausgespannte Pferd auf die Allmende und überliess es sich selbst. Ich empfahl mich der Obhut Gottes und schlief bald ein.»

Aus vergangenen Tagen

Die folgende Geschichte ereignete sich im Winter des Jahres 1876:

«Über das ganze Land waren ungeheure Schneemassen gefallen, und zwar derart reichlich, dass nicht einmal die ältesten Menschen an eine ähnliche Bescherung sich erinnern konnten. Im Tale war die Schneehöhe über ein Meter und in den Maiensässen sogar drei Meter.

Den Andeerern blieb jenes Jahr nicht nur des vielen Schnees wegen und der zahlreichen Lawinenopfer und Schäden im Lande herum im Gedächtnis haften, sondern auch der vielen Todesfälle im eigenen Dorfe. Achtzehn Mal riefen die Glocken zu Leichenbestattungen, was für ein Dorf mit nur 600 Einwohnern doch ungewohnt war. Aber nur ein einziger dieser Toten war das Opfer der Schnee und Witterungsverhältnisse jenes Winters.

Zwei Bauern Curdegn Conrad und Curdegn Pitschen waren mit ihrer Vieh Habe auf «Pastgaglias» vom Schneefall überrascht worden. Die Lage wurde recht unheimlich und gefährlich. Um wenigstens miteinander bessere Verbindung zu haben, schaufelten sie sich einen Tunnel von einer Hüttentüre zur andern, was der geringen Entfernung wegen leicht möglich war.

Nach einlässlicher Beratung kamen die beiden überein, anderntags den Abstieg ins Tal zu wagen. Nach beinahe übermenschlichen Anstrengungen für Mensch und Tier erreichten sie nur die nicht weit abseits gelegenen Maiensässe von «Burtgas». Es blieb ihnen keine andere Wahl, als ihre Vieh Habe in einem Stall unterzubringen und für sich selber in einer Hütte Schutz zu suchen. Menschenleer war es hier oben schon seit Wochen. Anderntags gelangten sie bis zu den Maiensässen von «Promigiur», wo sie abermals übernachteten. Unterdessen kam die längst erhoffte Hilfe aus dem Tale und mit vereinten Anstrengungen gelang der mehrstündige Abstieg am dritten Tage. Es war für alle Beteiligten eine beachtliche Leistung.

Damit war das Drama aber nicht zu Ende. Tags darauf wurden zwei Dorfbewohner zu Grabe getragen Einer davon war ein Nachbar von Curdegn Pitschen gewesen, so wurde letzterer als Leichenträger verpflichtet.

Zur gewohnten Stunde wurden anderntags die beiden Toten zu ihrer letzten Ruhestätte getragen, die Särge in die Tiefe versenkt und hierauf warfen die Träger gemäss alter Sitte noch einige Schaufeln Erde in die Gruft. Bei dieser Tätigkeit erlitt Curdegn Pitschen einen Schwächeanfall und fiel zu Boden. Er wurde auf die nächste Bank ins Dorf hinuntergetragen, wo der herbeigerufene Arzt nur noch den Tod feststellen konnte.

Die Aufregungen und Strapazen der vorangegangenen Tage waren dem kräftigen, erst 46-jährigen Manne, zum Verhängnis geworden». [4]

  1. Aus der Lebensbeschreibung von Donatus Joos.
  2. Aus einem Aufsatzheft von meinem Grossvater Leonhard Ragaz, der mit 16 Jahren bereits Schule erteilte und erst anschliessend das Seminar in Chur besuchte.
  3. Andreas Ragaz, geb. 1838 und 1861 nach Australien ausgewandert. Wuchs mit den Eltern von Leonhard Ragaz auf, da seine Mutter bei der Geburt gestorben war und sein Vater sogar wenige Monate vor seiner Geburt.
  4. Über jenen schneereichen Winter wurde viel geschrieben. Eindrucksvoll war der 75 Meter lange Schneetunnel bei Zernez, durch welchen die Pferdepost bis in den Sommer hinein hindurch fuhr.

    Die Schneeschmelze, die einer spät einsetzte, hatte in der unteren Schweiz grosse Wassernot zur Folge.