Geschichten von der Alp

Donatus Joos erzählt von seinen Erlebnissen auf der Alp:

Donatus Joos

«Für 5 bis 6 Wochen wurde ich vom früheren Senn auf Ursera zum Alpbub auf die Alp Anarosa berufen. Während des Melkens musste ich die Kühe auf dem Alpstafel beisammenhalten. Gemolken wurde im Freien. Am Anfang war das eine saure Arbeit. Die armen Kühe begriffen nicht, warum sie so müssig dastehen sollten und zwangen mich, fast die Beine auszulaufen. Allein schon nach wenigen Tagen sparten sie mir dieses unnötige Geläuf und gönnten mir die Freude, auch meine 7 bis 8 Kühe melken zu dürfen. Nach der Melkete wurde der schöne Trupp mit der stolzen Heerkuh voran auf die Weide getrieben. Wie wichtig kam ich mich vor, den Stecken in die Höhe, mit meinem hüoho nebenher gehen zu können.

In der Zwischenzeit hatte ich nebst dem Austreiben dem Senn Handlangerdienste zu leisten. Alles war schön und gut. Nur eins fiel mir ungemein schwer, nämlich schon um zwei Uhr morgens, nach wenigen Stunden Schlaf, aufstehen zu müssen, um die Kühe zusammen zu treiben. Wenn aber der Senn sein mächtiges Wort: «Kameraden auf, rührt euch!», erschallen liess und einer nach dem andern vom Lager aufsprang, so half alles nichts. Ich musste ihnen nachrennen, so schwer der Schlaf mich übermannte. Es kostete eine grosse Überwindung, meine Augen aufzureissen und wie ein Betrunkener taumelte ich zur Tür hinaus und den Kuhweg hinan. Bei meinem Weggang durfte ich zum Lohn für den geleisteten Dienst einen Zieger haben.» [1]

Beim Milchmessen (ir a masiras) auf Ursera [2]

«Einmal war ich mit Friedrich Conrad – wir waren noch Knaben – auf der Alp Ursera, um beim Messen der Ziegenmilch dabei zu sein. Diese Milchmessung fand jeden Sommer nur einmal statt, und zwar 12 Tage nach der Alpladung. Im Laufe des Nachmittags langten wir guter Dinge auf Ursera an. Das Melken der Geissen erfolgte am Abend durch die Hirten und den Senn. Jede gemolkene Ziege wurde dann durch ein von vier Männern gebildeten Durchgang (fureala) getrieben, wo das Euter des Tieres genau geprüft wurde, ob es ausgemolken sei.

Anderntags waren wir schon früh vor der Hütte versammelt. Jetzt durfte jeder Eigentümer seine Geisslein selbst melken. Selbstverständlich gab sich jeder die grösste Mühe auch den letzten Tropfen Milch aus dem Euter seiner Ziegen zu holen. Die Milch, die jeder Alpbestosser gemolken hatte, wurde gemessen und auf Grund dieser Kontrolle erfolgte im Herbst die Zuteilung an Käse und Zieger. Der Tag der Milchmessung war für alle Bauern besonders, aber für die Geissenbauern von grösster Bedeutung. [3]

In Erinnerung blieb mir besonders, wie wir und alle übrigen die Nacht auf Ursera verbrachten. Die Hütte war besetzt mit Knaben, Burschen, sowie Frauen und Männern und ein Wirrwarr von Stimmen war zu hören. Schlafen konnte wohl niemand, dazu fehlte auch ein geeigneter Platz, aber hin und wieder fanden mein Begleiter und ich Sitzgelegenheit am offenen Feuer, um uns zu erwärmen, oder wir sahen zu, wie andere Karten spielten. Weit unterhaltender war es, wenn wir die Gespräche und Erzählungen der Erwachsenen belauschen konnten.»

Eine Pferdegeschichte

Vor vielen Jahren waren die beiden Alppferde der beiden Alpen «Albin» und «Neza» [4] dicke Freunde. An den Tagen, da sie nicht gebraucht wurden und frei weiden durften, trafen sie sich, um den Tag gemeinsam verbringen zu können. Ein Berggrat trennte die beiden Alpen, aber dies war kein Hindernis für die berggewohnten Vierbeiner. Abends kehrte jeder der beiden in seinen heimatlichen Stall zurück.

Es ging bereits gegen den Herbst. Die Tage waren kürzer und das Wetter neblig und regnerisch. Dies wurde dem Pferd von Neza zum Verhängnis. Als die Alpknechte eines Abends sein Ausbleiben feststellten und auf die Suche gingen, fanden sie das gute Pferd tot am Fusse eines kleinen Felsens. Hufeisen und Schädel des Pferdes waren noch Jahrzehnte später an der Hütte aussen zu sehen!

  1. Aus der Chronik von Donatus Joos, Andeer.
  2. Erzählt von meinem Vater Ivan Ragaz (1871-1940)
  3. Anspruch auf Butter hatten nur diejenigen, die Kühe gealpt hatten. Die Geissenbauern hatten nur Anrecht auf Käse und Zieger.
  4. Die «Alp Neza» gehört zu Pignia, grenzt an die Alp Albin/Andies.