Die medizinische Betreuung

Jan Steen. Die kranke Frau, 1666

Allmählich verbreiteten sich genauere Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Ernährung und Hygiene. Das Bestreben war dabei nicht nur zu heilen, sondern auch Krankheiten und Unglücksfälle zu vermeiden. Einzelne Männer und Frauen zeichneten sich schon seit alters her durch eine besondere Begabung aus, in der Heilkunde bewandert zu sein. In Andeer genoss Amann Christian Joos einen solchen Ruf und es wurde ihm nachgesagt, dass er eine glückliche Hand hatte, Verrenkungen und sogar Knochenbrüche wieder in Ordnung zu bringen.

Freilich trieben auch Scharlatane, Quacksalber und Gesundbeter ihr Unwesen und erfreuten sich gewissen Zuspruchs. Anderseits gab es viele Einwohner, die zeitlebens nie einen Arzt aufsuchten oder Medikamente kauften. Toni Gartmann (Toni «Wert») von Ausserferrera erzählte:

«Meine Grossmutter Elsbeth Gartmann wurde 93 Jahre alt und verausgabte für Medikamente ganze 50 Rappen in ihrem Leben und meine Urahne Hofer, die noch älter wurde, war nie bei einem Arzt.»

Wollte ein Kranker im Schams einen Arzt in Anspruch nehmen, so musste er sich nach Thusis begeben. Volksverbunden und geschätzt waren besonders die dortigen Ärzte Joh. P. Veraguth und Dr. Franz Th. Veraguth. Frühere Generationen sprachen mit Anerkennung und Bewunderung von den Doktoren «Vargit». Nachdem aber Andeer nicht nur als Rastort viele Durchreisende, sondern auch als Badekurort immer mehr Fremde aufwies und auch die eigene Bevölkerung zunahm, wurde der Wunsch, einen Arzt im Dorf zu haben, immer dringlicher. Doch gut Ding will Weile haben. Erst anfangs der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hielt der erste Arzt, Dr. Balthasar Ruckling aus Emmen (Kt. Luzern) in Andeer Einzug. Er bekam, wie auch seine Nachfolger ein Wartegeld, einen Acker im «Pessen» zur freien Nutzung sowie Brennholz vor das Haus geliefert. Vorerst war sein Anstellungsvertrag nur mit den beiden Gemeinden Andeer und Pignia vereinbart worden.

Der nachfolgende Arzt war ein gewisser Dr. Küng. Sein Wartegeld betrug Fr 600.- pro Jahr, für Tagesbesuche ins Haus durfte er Fr 1.- fordern und des nachts das Doppelte. Für Besuche auswärts konnte er selber das Honorar festsetzen. Zu seinen Pflichten gehörte auch, eine Apotheke zu führen.

Erst ab 1885 waren die Anstellungsbedingungen grosszügiger. Das Wartegeld wurde auf Fr 1’700 hinaufgesetzt, woran das Hotel Fravi Fr 300, Zillis und Clugin Fr 300 bzw. Fr 75 beisteuerten. Die Stellungnahme der übrigen Gemeinden des Tales wird nicht mitgeteilt.

Über die folgenden Vorkommnisse mag sich der Leser seine Gedanken machen und gewisse Vergleiche anstellen:

Im Jahre 1865 wurde ein Kind von Simon Lehner ins Kreuzspital nach Chur verbracht. An die Spitalkosten von täglich 85 Rappen hatte Vater Lehner 50 Rappen und auch die Hälfte der übrigen Auslagen zu bezahlen. Die Gemeinde übernahm die restlichen täglichen 35 Rappen und auch die Hälfte weiterer Unkosten.

Für Geistesgestörte, Menschen mit Seelenängsten, gab es wohl Anstalten, aber ausserhalb des Kantons. Wurden Geisteskranke als gemeingefährlich eingestuft, dann wurden sie angekettet, in der Regel an den Stubenofen. So geschah es vor beinahe hundert Jahren auch in unserem Dorfe mit einem Manne, welcher zeitweilig der Raserei verfiel. Der damalige Arzt in Andeer ordnete die Einlieferung des Kranken in eine Heilanstalt. Die Gemeinde übernahm sämtliche Kosten.

Vorfälle dieser Art liessen die Erkenntnis reifen, dass für Spitäler und Irrenanstalten mehr getan werden müsse. Es kam deshalb wohl nicht von ungefähr, dass die Gemeindeversammlung im Jahre 1889 unter Namensaufruf über die Frage der Errichtung der kantonalen Irrenanstalt «Waldhaus» (heute «Kant. Psychiatrische Anstalt Waldhaus» genannt) mit 69 ja, ohne Gegenstimmen Stellung bezog.