Vom Saum- zum Fahrverkehr

Saumzug über den Splügenpass.

Die Eröffnung der neuen Strasse wurde von der Bevölkerung im Allgemeinen begrüsst. Freilich darf nicht ausser Acht gelassen werden- obwohl gerade hierüber sehr wenig bekannt ist, dass die Umstellung vom Saum- auf den Fahrverkehr Probleme mit sich brachte, die nicht von allen Betroffenen bewältigt werden konnten. Schon finanziell war die Neuanschaffung von Wagen und Schlitten und was alles noch dazu gehörte keine Kleinigkeit. Die meisten Saumpferde eigneten sich nicht als Zugtiere und mussten ersetzt werden. Die Anschaffung von neuen Pferden konnte aber nur dann befriedigend ausfallen, wenn der Käufer in der Lage war Temperament, Charakter, Stärke usw. derselben richtig einzuschätzen. Auch die Ochsen mit ihren schmalen Zweiradwagen oder Schlitten, wie man sie seit alters her durch die Viamala verwendete, hatten ausgedient.

Für gewisse Handwerker, wie Schmiede, Geschirrmacher und Wagner, bedingte die Anpassung an die neuen Begebenheiten grosse Änderungen in ihrer Arbeitsweise.

Mit dem Einspänner durch die Viamala.

Wohl als eine Art Fortsetzung des früheren Saumverkehrs, aber auch um grössere Auslagen zu vermeiden, wurde zunächst bei uns nur mit Einspännern gefahren. Handelte es sich dabei um sichere Pferde, konnte der gleiche Fuhrmann zwei oder auch mehr solcher Einspänner bedienen, andernfalls war er aber auf die Mithilfe Dritter angewiesen. [1] Erst viel später wurde weitgehend auf den Zweier- Dreier- und Viererzug gewechselt. Im Winter blieb der nur von einem Pferd gezogene Schlitten vorherrschend. Der damalige Bahnschlitten (flieua) presste den Schnee nur zusammen und dadurch entstand eine eher schmale Fahrbahn, was das Ausweichen sich kreuzender breiter Schlitten erschwerte.

Das Pferd kam vielseitig zum Einsatz und der Warenverkehr durch unser Tal in beiden Richtungen nahm einen ungeahnten Umfang an. Krisenzeiten mit bösen Rückschlägen gab es aber auch damals. Die unsichere politische und wirtschaftliche Lage der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, die 1848 in europaweite, bürgerlich-revolutionäre Erhebungen gipfelte, löste die erste Auswanderungswelle von Andeerern nach Übersee aus.

Gemäss Überlieferung sollen vom Saumverkehr etwa 50 Männer ihren Unterhalt ganz oder teilweise bestritten haben. Beim nachfolgenden Warenverkehr auf Rädern aber war die Zahl der damit direkt beschäftigten Personen geringer. Der Pferdebestand im Dorfe schwankte zwischen 60 und 80 Einheiten. [2]

Andeer wird Verkehrszentrum und Postwechselstelle wie Chur, Reichenau, Thusis, Splügen, Campodolcino und Chiavenna. In unserem Dorfe fand nicht nur der Pferdewechsel bei den Postwagen statt. Es wurden sehr oft auch Zusatz- oder Vorspannpferde benötigt, wie auch Ersatzpferde oder solche für Extrafuhren. Die Typen der Kutschen: Breaks, Chaisen, Kaleschen, Landauer, Haupt-Nebenwagen, Berline usw. wurden bald geläufig wie auch die Bezeichnungen Coupé, Interieur und Banquette bei der grossen vier- oder fünfspännigen Pferdepost.

Wie der heutige Autorummel forderte auch der frühere mit Pferden bewältigte Waren- und Reiseverkehr seine Opfer. Besonders gefürchtet war der Abstieg von Rongellen nach Thusis beim «Verlorenen Loch», auch «Schinterstutz» genannt.

Um bei vereisten Strassen das Rutschen der schweren Furgons zu verhindern, wurden die Radreifen der hinteren Räder mit kleinen Eisenspitzen versehen. Die hölzernen Bremsklötze mussten dann aber so ausgespart werden, dass die Eisenspitzen diese beim Spannen nicht berührten. Bei den Kutschen wurde, mit dem unter dem hinteren linken Rad geschobenen Radschuh, eine sichere Bremswirkung erzielt. [3]

Als Fuhrleute oder Wegmacher verunglückten auf der Landstrasse aus unserem Dorfe:

18. Februar 1839Andreas Engi unterhalb Campodolcino im St. Jakobstal. Er war behilflich verschüttete Personen aus einer Lawine zu retten, als er nebst fünf weiteren Helfern von einer zweiten Lawine zugedeckt wurden 29 Jahre alt.
22. November 1856Abraham Bieler, in der Viamala, erdrückt auf der neuen Brücke, wo er an der Strasse arbeitete.
10. Mai 1858Simon Lehner bei Zillis von einem Stein erschlagen, als er an der Strasse arbeitete. 41 Jahre alt.
23. März 1877Johann Andrea, Wegmacher, unterhalb des «Verlorenen Loches» gefallen und volle 30 Stunden später noch lebend gefunden. Er hatte schwere Verletzungen, an welchen er dann 46-jährig erlag.
1. Juli 1881Anton Menn. Als Fuhrmann in der Rofla verunglückt und tot aufgefunden, 31 Jahre alt. Er war unter die Räder geraten.
21. November 1895Luzius Grischott. Unterhalb des «Verlorenen Loches» scheuten die Pferde. Der mit Brettern beladene Wagen stürzte gegen die Felswand, wobei der Fuhrmann einen Schädelbruch erlitt. 39 Jahre alt.
  1. Der Kleine Rat veröffentlichte ein Rundschreiben im Jahre 1822, worin auf die Gefahren des Fahrens mit mehreren Einspännern durch den gleichen Fuhrmann hingewiesen wird. Bei der Umstellung auf Zweispänner soll 1/4 des Weggeldes erlassen werden.
  2. Während des ersten Weltkrieges waren z.B. anno 1915 zeitweilig 300 Pferde in Andeer untergebracht.
  3. Die romanische Sprache tat sich schwer, für viele neue und bis dahin ungewohnte Dinge den richtigen Namen zu finden. Man denke an Spannig, Radschuh, Kummet, Krätzer, Waagscheit, Zugstrangen, Kreuz-zügel usw.