Nachts durch die Viamala

Wie der Saumverkehr in unseren Gegenden sich abspielte, ist in vielen Berichten. Erzählungen und auf Bildern dargestellt. Berühmt und berüchtigt war der Saumpfad durch die wilde und gefährliche «Viamala». Von einer nächtlichen Wanderung um das Jahr 1800 durch diese Schlucht erzählt ein Mann aus dem Domleschg. Dieser auf romanisch abgefassten Reisebericht folgt hier in freier Übersetzung. [1]

«Als munteren Knaben sandte mich mein Vater nach Nufenen, wo ich zur Schule gehen sollte, um deutsch besser zu lernen. Ich hielt es aber dort nicht lange aus.

Nufenen ist ein deutschsprachiges Dorf und ich langweilte mich in dieser verlassenen Gegend, wo die Häuser weit auseinander verstreut sind. Bemerkung: Damals gehörte auch die Siedlung jenseits des Rheins, genannt Ebbi, dazu, welche viel später durch ein Hochwasserereignis zerstört wurde.

Nicht gar lange nach meiner Ankunft in Nufenen teilte ein Freund mir mit, dass er nach Sils gehen werde, um dort einen Besuch zu machen. Eines Tages – ohne jemandem etwas zu sagen – machten wir uns auf den Weg dem Schamsertal entgegen. Nach einer längeren Wanderung gelangten wir beim Einnachten in Andeer an. Wir waren dreist genug, weiter zu wandern, obwohl wir wussten, wie gefährlich es sei, die Viamala, dieses dunkle und unheimliche Felsental von unglaublicher Tiefe, nachts zu durchqueren.

Wir mussten gut horchen, um tief unter unseren Füssen das drohende Gurgeln des Rheins zu vernehmen. Mich überkam ein Schaudern, über die kühn angelegten Stege und Brücken und über die eng an die Felswände hängenden Galerien zu schreiten. Unheimlich war die Einsamkeit, denn wir begegneten keiner Menschenseele.

Als wir gegen Mitternacht zur Nolla gelangten, wurden wir zu unserem Schrecken gewahr, dass weder Brücke noch Steg zu sehen und wohl kürzlich von den Fluten fortgerissen worden waren. Wie sollten wir den schwarzen und reissenden Wasserlauf überqueren?

Kein Mensch war herum und wir standen ratlos und zitternd vor Kälte da. Wir mochten wohl eine halbe Stunde auf einer Sandbank am Ufer ausgeruht haben, als mein Freund, der stärker, grösser und älter war, zu mir sagte: «Gib mir die Hand und sei guten Mutes. Er sprang ins Wasser und zog mich mit sich nach. Aber mitten im Bachbett verloren meine Füsse den Halt. Ich stosse einen Schrei aus, mein Freund zieht mich noch einige Schritt weiter und wirft mich mit letzter Kraft auf das andere Ufer. Dort verharrten wir längere Zeit, ganz benommen und ohne ein Wort sagen zu können. Aber allmählich kamen wir wieder zu uns. Wir schritten durch Thusis, wo niemand sich zeigte. Wohl hörten wir hin und wieder das Bellen eines Hundes, aber die Leute waren noch im tiefsten Schlafe. Schliesslich erreichten wir wieder den Rhein bei Sils. Ein schmaler, aus drei nebeneinander gefügten, wackligen Brettern, bildete den Steg. Ohne Geländer mussten wir diesen in der Dunkelheit überschreiten. Wir hatten keine Sicht, aber umso schauerlicher vernahmen wir das Rauschen des Rheins unter unseren Füssen.

Schliesslich langten wir todmüde Wanderer um zwei Uhr nachts ohne weitere Verzögerungen in Sils an.»

  1. Johannes Barandun von Feldis «Mastral da Giras» genannt, hat in treuherziger Weise seinen abwechslungsreichen Lebenslauf beschrieben und drucken lassen. Sein Buch beginnt:

    «Im Jahre 1787 am Weihnachtstage zur nächtlichen Stunde, hinter der Türe einer ärmlichen Holzstube, deren Wände vom Holzwurm durchlöchert waren, wurde ein Bub geboren und dieser war ich.»