Das Fuhrwesen

Besorgniserregend waren die Folgen des Fuhrwesens auf Sitte und Moral und dies seit jeher. Mit Händel, Geschwätz, Schnäpsen und Kartenspiel wurden Zeit und Geld vertan und die Familienpflichten vernachlässigt. Manche Säumer, kaum hatten sie ihre Pferde bei der «Susta» entladen, trieben sie diese allein auf den Heimweg, während sie sich selbst in den Wirtschaften gütlich taten. Diese Missstände waren Pfarrer Matli Conrad ein Dorn im Auge. Er schreibt:

«Jene, meistens mit dem Fuhrwesen beschäftigt nahmen alle Untugenden an, die aus dem Wirtshausleben und Müssiggang zu entspringen pflegen. Dieser Beruf hält die Jungen von der Schule und dem wöchentlichen Gottesdienst ab.»

Aushängeschild für die Fuhrleute in Zillis, 1786.

In böser Vorahnung, welche Nachteile die neuen Strassen mit der Zunahme des Verkehrs mit sich bringen würden, liess der genannte an der Brücke im Bad seine auf lateinisch abgefasste, warnende Inschrift anbringen. (Vergl. Abschnitt über Inschriften, Sprüche und Gedichte).

War der Wirtshausbesuch für viele mit verheerenden Folgen belastet, so war nicht minder schlimm die Sucht gewisser Herren und Herrensöhnchen, Wetten über die Schnelligkeit ihrer Vierbeiner abzuschliessen. Durch derlei einfältige Abmachungen wurde manches wertvolle Pferd zu Grunde gerichtet und zusätzlich viel Geld vertan.

Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass Pferdehalter bereitwillig ihre Pferde etwa Privaten für einen halben oder einen ganzen Tag ausliehen. Als Entschädigung forderten sie meist kein Geld, sondern irgendwelche Arbeitsleistung oder die Unterstützung ihrer Anliegen, sei es in der Gemeindeversammlung oder sonst wo. Auf diese Weise wurden hin und wieder Interessen durchgesetzt, die nicht unbedingt zum Vorteil der Allgemeinheit gereichten.

La Susta, ein Zeuge aus der Zeit des grossen Verkehrs. (heute Haus Fravi) Aussen an der Susta musste jeweils bis 23 Uhr ein Licht brennen.

Der Reiseverkehr mit Kutschen und Schlitten kam wohl erst mit der Einführung regelmässiger Postkurse in Schwung. Dies war für unsere Gegend von grosser Tragweite. Einerseits war die Post eine willkommene Arbeitgeberin [1] und anderseits waren es Eisenbahn und Post, die unser Land öffneten und den Fremdenverkehr förderten. Für die Post waren die Pferdeposten eine grosse finanzielle Belastung und die Fehlbeträge gingen in die Millionen. Als Fahrgelegenheit wurde die Post von den Einheimischen nur ausnahmsweise benutzt und dies ist verständlich. Die Tarife waren derart hoch, dass in Ermangelung anderer Sitzgelegenheit lieber zu Fuss gereist wurde. Der Kilometerpreis war zwischen 25 und 30 Rappen. Für eine Wegfahrt nach Thusis und zurück mussten mehrere Franken aufgewendet werden, was für damalige Verhältnisse viel war.

Dass es auch schon damals blinde Passagiere gab oder solche, die es versuchen wollten, bestätigt folgendes Ereignis. Ein bekannter Geizhals war mit seiner Zukünftigen übereingekommen, gemäss damaliger Sitte, nach Chur zu reisen, um dort die Vorbereitungen und Einkäufe für die Hochzeit zu tätigen (was «ir a harmagear» hiess). Für die Braut löste er grosszügig die Fahrkarte, während er selbst ausserhalb des Dorfes in der Dunkelheit auf den Gepäckkasten – auch «Magazin» genannt – aufspringen wollte. Zur damaligen Zeit fuhr nämlich ein Postkurs zur nächtlichen Stunde durch Andeer und langte frühmorgens in Chur an. Der Aufsprung auf die Post gelang zwar, aber die Peitschenhiebe des Postillions, der von der Abmachung Wind erhalten hatte, sorgten dafür, dass der blinde Passagier abspringen und den weiten Weg zu Fuss zurücklegen musste. Müde, übelgelaunt und erst gegen Mittag kam der Bräutigam zur Obertorbrücke, wo seine Auserwählte seit Stunden verzweifelt auf ihn gewartet hatte.

Es dauerte nicht sehr lange, so belebten auch andere Fuhrwerke unsere Strassen. Viele davon wurden von Lohnkutschern bedient. Sie waren die ersten Taxifahrer in unserem Lande.

In Andeer war Johann Conrad, Wirt «Zum Weissen Kreuz», ein weit herum bekannter Lohnkutscher. Er besass eigenes Gefährt und dazu die Pferde. Sein schönes Vierergespann erweckte allenthalben Beachtung. Seine Fahrten führten ins Wallis, ins Engadin, ins Berner Oberland aber auch ins Tirol, nach Mailand, Wien und Budapest. Der Tagespreis für ein Zweigespann war samt Kutscher 50 Fr, für ein Vierergespann das Doppelte. An Ruhetagen, die etwa eingeschaltet wurden, waren die Ansätze die Hälfte. An Trinkgeld – heute würde man Service sagen – kassierte der Kutscher 10% des Fahrgeldes.

Aus jenen grossen Zeiten sind heute sehr wenige Zeugen erhalten. Kutschen, Brückenwagen und Schlitten sind verschwunden und höchstens noch vereinzelt in Museen ausgestellt. Mit der Eröffnung der Gotthard- und Brennerbahn schwand der Verkehr über die Pässe fast über Nacht. Zu meiner Jugendzeit kursierte hoch während der Sommerzeit der vierspännige Furgon auf der Strecke zwischen Thusis und Chiavenna. Mit den kümmerlichen Resten des Pferdebestandes räumten dann das Auto und die motorisierte Landwirtschaft gänzlich auf.

Auf einem Bilde wird hier die noch heute bestehende Remise in den Kehren der Rofla gezeigt, wo Schlitten und Postkutsche untergebracht waren. Beidseitig weist dieser Schuppen grosse Tore auf, sodass – wenn die Wegverhältnisse es erforderten mit Leichtigkeit von Wagen auf Schlitten oder auch umgekehrt gewechselt werden konnte.

Zeitzeugen berichten

«Ich wohnte zuunterst im Dorfe und wir Schulkinder hatten oft Mühe uns behutsam zwischen die vielen fahrenden oder auch stille stehenden Kutschen, Gepäckwagen, Postwagen, Leiterwagen, Furgons und Reiter hindurch zu schlängeln, um noch rechtzeitig zur Schule zu gelangen. Besonders erpicht waren wir Knaben dem Durchtrieb der vielen Pferde zuzusehen, die von Deutschland nach Italien geführt wurden. Solche Herden zählten oft hundert und mehr Pferde. Je ein Mann zu Pferd führte 10 bis 12 Pferde, von welchen die vier vorderen nebeneinander an einer Stange gekoppelt waren, während die nachfolgenden ebenfalls in einer Viererreihe jedes am Schwanz des Vordertieres angebunden war.

Auch Wanderer einzeln, mehrere zusammen oder scharenweise belebten die Landstrasse. Tausende Italiener kamen im Frühjahr in die Schweiz und kehrten im Herbst wieder nach Hause zurück. Fröhlich plaudernd und singend zogen sie vorbei meist barfuss, weil sie ihr Schuhwerk, um dieses zu schonen, geschultert an einem Stecken befestigt trugen.»

«Gerne erinnere ich mich an eine Reise über den Splügen im tiefsten Winter. Die Einerkolonne bestand aus 25 Schlitten. Das Leitross ein besonders starkes und gewandtes Pferd, ging voran und auf dem Schlitten war Postillion Markes. Die Leitseile waren dem Pferde weggenommen, weil es sich selbst zu Recht finden musste. Dies geschah so, dass es die Nüstern des Öfteren in den Schnee steckte und dank des Geruchssinnes den Weg feststellte. Die nachfolgenden Pferde hatten sich nach dem Leitross zu richten. Auf der Passhöhe wurde das Ruttnerross mit einem anderen ebenfalls zuverlässigen Pferd ausgewechselt.

Ein andermal fuhr ich mit der Postkutsche nach Chiavenna. Unter den Galerien begegneten wir Johann Conrad aus Andeer. Es war ein bitter kalter Herbsttag. Seinen Wagen hatte er mit Weinfässern beladen. Er fragte uns, ob wir Wein möchten. Über dieses Angebot waren wir hocherfreut und dankbar.» [2]

Dass auch die Posthalter mancherlei Ungemach zu erdulden hatten, ist weiter nicht verwunderlich. [3] Dabei hatten sie wohl nicht nur mit den Bediensteten ihre liebe Not, sondern auch hin und wieder mit der Postverwaltung. In einem Brief aus dem Jahre 1855 beschwert sich Philip Hoessli, Andeer, bei der Direktion, weil die Fahrzeit von einer Stunde und zehn Minuten für die Strecke Splügen – Andeer zu kurz bemessen sei. Früher sei diese zehn Minuten länger angesetzt gewesen. Zufolge der schlechten Wegverhältnisse, namentlich im Herbst und Frühjahr, sei es kaum möglich rechtzeitig in Andeer anzukommen. Im Laufe der letzten Jahre seien ihm wegen Überanstrengung drei wertvolle Postpferde zu Grunde gegangen und andere seien vorübergehend dienstuntauglich geworden. Von Splügen bis «Sogn Stiafen» bei Bärenburg müssten die Zugtiere ununterbrochen traben, um Verspätungen zu vermeiden. Eine solche immer wiederkehrende Überanstrengung gehe selten ohne böse Folgen ab, was jedem Tierfreund leidtun müsse.

Die Stellungnahme der Postdirektion ist nicht bekannt. Die Fahrzeit von einer Stunde und zehn Minuten war jedenfalls kurz vor der Umstellung der Pferde auf die Auto Post noch unverändert in Kraft. [4]

Ein Fuhrhalter erzählt

Was berichtet uns noch Donatus Joos in seiner mehrmals zitierten Lebensbeschreibung über die Sorgen und Nöten der damaligen Fuhrhalter, zu denen auch sein Vater gehörte?

«Bis in sein Alter hinein arbeitete mein Vater, Conradin Joos, mit grosser Genauigkeit und Sorgfalt auf seinem Gut. Sein Herz hing aber noch stärker an seinem Fuhrhandwerk, dass er besass, um Transitgüter von Chur nach Splügen und zurück zu befördern. Es brachte aber viel Unsegen ins Haus. Der sparsame Alte grämte und härmte sich ab, als er sehen musste, wie er, teils durch Sorglosigkeit und Betrügereien der Fahrknechte, teils durch Pferdeverluste, in Schulden geriet. Als fünf seiner Söhne in den Jahren 1849 und 54 nach Amerika auswanderten, war er zur Aufgabe seiner Pferdefuhrhalterei gezwungen.

Einmal wurde ich erbeten, mit dem alten A. Hössli, der mit seinen zwei ungleichen Einspännern einen Knaben zum Helfen höchst nötig hatte, nach Thusis zu fahren. Seine Gesellschaft schien mir eine der interessantesten von der Welt zu sein. Seine Jugend in Spanien zugebracht, wusste er gar viel Neues aus diesem Lande zu erzählen.

In Thusis angekommen, war des Alten erstes Wort: «Nun Kleiner, jetzt wollen wir uns an einem guten Stück Fleisch und einem Glas Veltliner erquicken». Ich ass mit Appetit, trinken musste ich aber über Vergnügen und Vermögen. Mit übersprudelndem Munde den Wein lobend, schenkte er wohlmeinend mir an einem fort ein, bis mir alle Welt wie ein Wirbel herumging. Mit der Hilfe war es jetzt vorbei. Auf dem Heimweg band er mich auf den Wagen und deckte mich warm zu. Die Meinen erschraken bei diesem Anblick. Der Alte suchte sie zu beruhigen und befahl ein paar rohe Eier einzugeben. Ich könne ja so wenig vertragen. Nachher in ein kühles Zimmer gebracht, schlief ich bald ein und erwachte wieder gesund. Der Vater verwies mich aber scharf.

Von Zeit zu Zeit hatte der älteste Bruder (Giachen Joos, geb. 1824 und im Juni 1854 nach Amerika ausgewandert) mit einer Ladung Eilfuhr nachts von Splügen her zu fahren und das war damals als man noch nichts von mehrspännigen Schlitten wusste, mit drei bis vier Pferden auf glatter Schlittbahn fürwahr keine Kleinigkeit.

Es tat Not, dass ihm an solchen Abenden Jemand zu Hilfe komme. Nicht selten war ich dazu erkoren. Mit Einbruch der Nacht machte ich mich auf den Weg. In der Schenke Baracca hinter Rofla war mein Warteposten. Wenn ich zwischen zehn und zwölf Uhr Peitschenknallen Hundegebell und Glockengeschell hörte, so konnte ich denken, der Bruder sei da, worauf ich mit einem Hallo hinausstürzte. Erkannte ich aus dem Hallo, das zurückschallte, die Stimme des Bruders so sprang ich hin, ergriff einem Pferd die Zügel und unter Peitschengeknall und Glockengeschell ging es weiter, die Roflahöhe hinunter. Mitunter traf es sich, dass ihrer zwei zugleich die Eilfuhrtour hatten. In einem solchen Falle hatte ich einen Kameraden.

In der Baracca vertrieben wir die Zeit mit Kartenspiel. Einmal, als wir zu selbander warteten, wurde es zwölfe, eins und darüber, und immer noch zeigte sich Niemand. Wir wurden unruhig, gingen aus und ein, machten das Fenster auf und horchten. Alles blieb still. Doch endlich, als die Uhr schon zwei schlug, hörten wir sie kommen, aber statt unser Hallo zu erwidern, hielten die zwei so sehnlich erwarteten vor dem Hause still und schlenderten zur Türe herein. Und du liebe Zeit in welchem Zustand befand sich mein Bruder! Über und über mit Blut bedeckt, liess er sich vom andern führen, welcher ihm dann beim Licht sogleich den Verband vom Kopfe löste und eine tief klaffende Wunde mit einer Mischung von Wasser und Branntwein, den die Schenkwirtin in aller Eile holte, auswusch. Wie war es zugegangen? Es war eine stockfinstere Nacht.

Der Bruder machte sich mit seinen drei Einspännern allein auf den Weg. Im so genannten Rüti etwa eine Stunde hinter unserer Baracca, rutschte der schwerbeladene Schlitten seines Colli in einen Schneegraben. Den Zwick von hinten fühlend, strengte sich das Pferd an, weiterzukommen. Da es aber den Schlitten nicht vom Fleck zu bringen vermochte, so stampfte und schnaufte es ganz bedenklich. Der Bruder merkte bald, was los sei, kam sachte nach vorn und streichelte seinen Colli ob bloss, um es zu besänftigen oder um es auch zu einer neuen Anstrengung Kraft sammeln zu lassen, steht dahin – kurz das gute Tier wollte in guter Meinung noch einmal versuchen, weiter zu kommen, richtete sich auf die Hinterbeine und schlug mit beiden Vorderhufen auf den Boden, traf aber damit den Kopf seines Herrn, der zusammenfiel und besinnungslos unter ihm lag. Etwa zwei Stunden später kam der andere Fuhrmann, sah niemand bei den Pferden, rief laut, knallte, pfiff. Es erfolgte keine Antwort. Etwa denkend, der Bruder müsse ein wenig zurückgeblieben sein und werde bald nachkommen, zwickte er dem Colli und rief: «HIO – vorwärts!» Aber siehe, das treue Tier zuckte mit dem Körper, gestikulierte mit dem Kopf, regte aber kein Bein. Es erlitt die Peitschenhiebe mit staunenswerter Geduld. Der Mann stutzte, holte seine Laterne, untersuchte den Weg und fand den Bruder zusammengekauert und im Schnee vergraben vor das Ross. Er hob ihn auf und verband die Wunde, wobei der Leidende wieder zur Besinnung kam. Durch Erleichtern der Last konnte der gefickte Schlitten wieder flott gemacht werden, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Eines der Pferde, von uns Pikol genannt, behielt der Vater der Hausarbeit wegen meistens daheim. Es musste aber auch des Verdienstes wegen manches Zeugs für andere Leute tun. Im Spätherbst und zur Zeit der Schneeschmelze, wenn die Strassen kotig waren, hat unser Pikol manch hundert Mal den nach Splügen fahrenden Fuhrwerken bis zur Rofla oder Rütihöhe als Vorspann gedient. Ihn heimzuholen schickte der Vater eines von uns Kindern. Ich tat es gerne, weil wir nicht selten von den Fuhrleuten ein Trinkgeldchen bekamen, dass wir freilich nur zum Kaufe von etwas Nützlichem für uns behalten durften. Die Fuhrleute ihrerseits machten sich bisweilen auch so bequem, dass sie uns knallen und fahren liessen, während sie gemütlich nachfolgten oder in den Wirtshäusern herumhockten.

Zur Schulzeit machten wir uns erst nach der Schule zwischen 4 und 5 Uhr auf den Weg, erst etwa eine Stunde nach der Abfahrt des Fuhrwerkes, das aber schon nach einer Stunde eingeholt werden konnte. Dass wir selten vor zehn Uhr mitunter auch erst gegen Mitternacht zu Hause ankamen, lässt sich leicht denken. Ich machte mir aber nichts daraus. Wenn mein Pikol einmal ausgespannt war und ich mich auf ihn geschwungen hatte, so hatte es keine Not. Das Reiten gefiel mir ausserordentlich gut. Ich sang und johlte ganz vergnügt in die Nacht hinein. Das schlechte Wetter machte allerdings Ausnahmen. Wenn ich bis auf die Knochen durchnässt oder mit vor Kälte starrenden Händen und Füssen heimkam, so verging mir das Singen und Johlen. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie einmal noch bevor die Roflahöhe erreicht wurde, ein entsetzlich stürmisches Schneewetter einfiel. Es war aber Morgen. Die Pferde hatten ungeheure Mühe, den schweren Wagen durch den Schnee zu ziehen. Sie waren vor Schweiss wie in Schaum gehüllt. Unter solchen Umständen war natürlich nicht zu denken, dass mein Pikol ausgespannt werden sollte. Er musste das gleiche Schicksal teilen und den Lastwagen bis nach Splügen rollen helfen, was, statt fünf volle sechs Stunden währte.

Die armen Tiere dauerten mich. Ihren Hafer, haben sie, denke ich mir, nie so gut verdient, wie diesmal. Er ist ihnen auch reichlich zu Teil geworden. Und mit welchem Begehren verzehrten sie ihn. Aber auch wir beide empfanden schmerzhaft die Leere des Magens. Allein auch dafür ward gesorgt. Eine Flasche Veltliner und Fleisch und Brod stellten uns völlig wieder her. Noch ein kurzer Aufenthalt und mein Pikol stand aufgezäumt und fertig da. Der Fuhrmann fasste mich an, schwang mich auf mein treues Tier, gab mir die Zügel in die Hand, machte mir den Mantel zurecht und sagte: «Jetzt Büblein, geh in Gottes Namen. Willst dein Leben erhalten, so lass dem Ross den Zügel, noch weniger gedenke daran herunter zu steigen oder du bist des Todes, höre, Kleiner des Todes bist du, wenn du so waghalsig bist, vom Pferde zu steigen».

Auf diese Worte hieb er dem Pikol mit dem Peitschenstiel von hinten eins auf die Schenkel und dieser trabte zum Dorfe hinaus. Aber wie hatte sich mittlerweile das Wetter verschlimmert. Fürchterlich tobte der Sturm. Ein ganz enger Gesichtskreis war um uns gezogen. Hinter demselben war alles in Wetterdunkel gehüllt. Oft raste ein Schneewirbel daher der einen, schier nicht zu Atem kommen liess und Ross und Männchen im Schnee zu begraben drohte. Hohe Schneewellen warfen sich auf durch welche das Pferd sich mühsam hindurcharbeiten musste. Die Strasse war nicht mehr zu erkennen. Eine Schneewüste war vor uns. Dennoch, mein Pikol verirrte sich nicht und tat, was in seinen Kräften stand, um in möglichst kurzer Zeit das Ziel seines Weges zu erreichen.

Dem kleinen Reitersmann wurde aber je länger je banger. An Nase, Händen und Füssen fror ich so sehr, dass ich nicht glaubte, lange mehr aushalten zu können. Indessen gelangten wir nach Silvaplana. Wie aber noch eine gute halbe Stunde Weges auf dieser offenen Ebene auf dem Gebirge machen, wo der Wind am tollsten hauste. Das war meine Frage kummervollen Herzens. Dass ich in dem Unwetter nicht allein fortkommen und der drohende Tod mich hier finden könnte, war mir klarer als je. Doch die Not lehrt nicht nur beten, sondern auch denken, erfinden und handeln. Ich war aber ein unerfahrener Knabe und dachte wie ein solcher und so dachte ich, ich wolle an des Pferdes Schweif mich festhalten und ihm so nachspringen. So könnte ich bald zu Wärme kommen und den Weg nicht verlieren. Gedacht, getan. Vom Pferde gesprungen, erfasste ich dessen Schweif.

Allein wie bald musste ich erfahren, dass mein Sinnen und Denken töricht war. Mühsam genug ging es einige Schritte weit, bis zur nächsten Schneewelle, da aber waren für meine Beine die Beine des Pferdes zu hoch und der Schnee zu tief: ich musste noch ein paar Schritte nachgeschleppt den Schweif fahren lassen. Vom Winde gepeitscht, wollte heute das sonst folgsame Tier auch nicht auf mein Oha achten. In wenigen Minuten war es mir aus dem Gesicht gekommen. Es blieb mir noch der Trost, in seinen Fusstapfen zu laufen. Aber oh weh, auch in dieser Hoffnung war ich getäuscht: gar bald war jede Spur verweht und verschwunden und überdies verlor ich total die Orientierung. Mir blieb nichts anders übrig, als auf Geratewohl mich weiter durch den Schnee zu arbeiten. Komme ich um, so komme ich um.

Zum Glück kam ich westlich ab, wo ich nach langen Strapazen nicht umzukommen brauchte, sondern auf den Rhein stossen musste, der mir die rechte Richtung geben konnte. Welcher willkommene Freund. Wenn nur die Nacht nicht so bald einbricht, so konnte ich hoffen nun die Gefahr zu entgehen. Ich hätte ausrufen mögen: «Sonne, stehe still!» Doch das wäre nicht nötig gewesen, denn ich brauchte gar nicht mehr weit zu gehen, als ich zu meiner Freude den Roflawald gewahr wurde, der mir wie ein rettender Engel erschien. Nur noch eine Mauer war zu erklimmen und ich sah mich gerettet auf der Roflahöhe, wo die Strasse sich durch den dem Sturm trotzenden Wald hinzieht. Ich konnte nun ungehindert die Höhe hinab laufen. Meine Eltern die schon Anstalten gemacht hatten mich zu suchen, sahen mich, wie im Evangelium der Vater den verlorenen Sohn, von Weitem kommen und freuten sich mit mir des gesunden Wiedersehens. Das Pferd war längstens angelangt.

Zu Zeiten, da kein Vorspann gebraucht wurde und Hausarbeit nicht dringend war, musste unser Pferd Pikol auf andere Weise etwas verdienen Es gab immer etwas zu führen: bald Frucht aus -, bald Bretter nach Italien, bald Roheisen aus der Andeerer Schmelze und über den Bernhardin. Im Winter machte der Vater selbst oder später erwachsene Söhne den Fuhrmann. Wir Kinder durften ausser in seltenen Notfällen die Schule nie versäumen. Warum ich einmal in der strengsten Zeit, bei etwa -20° R [‑30° C] Kälte, schlechterdings nach Splügen fahren musste, weiss ich mir nicht zu erklären. Genug, es geschah und es bleibt mir unvergesslich mit welcher Mühe ich erst nach 7 stündiger Fahrt in Splügen ankam, wie der Schlitten oft stecken blieb, dem Pferd, von Zeit zu Zeit Eisschollen von den Hufen abgeklopft werden mussten und wie ich mit Kälte und Frost zu kämpfen hatte. Brod und Wurst gefroren mir in der Tasche. Am Kinn setzte sich eine Eiskruste fest. Die Hände. waren wie aufgeblasen. Am Abend brachte ich die an die Füsse gefrorenen Schuhe und Strümpfe erst heraus, als sie eingewärmt waren. Die Zehen hatten eine dunkelbraune Farbe. Der schnelle Wechsel aus der kalten Luft in das warme Zimmer verursachte grosse Schmerzen, die ich nur durch Schneeumschläge zu lindern vermochte. Erst am andern Tage wagte ich, und zwar nur allmählig steigend, die Füsse warm einzuwickeln. Ein paar Tage gab mir das Ding viel zu schaffen und meine Füsse sind seither sehr empfindlich gegen Kälte.

Beim Fuhrwerk war mir die Zeit so lange. Und so sehr ich auch nach Gelegenheit ausschaute einen anderen Beruf zu ergreifen – es war vergebens: kein Mensch in der Welt nahm sich meiner an. Doch so sehr mir alle Aussicht genommen zu sein schien und so lange die Zeit mir auch vorkommen wollte, ich wartete hoffend. Leider liess ich während dieser Zeit den sogenannten Bruder Liederlich der Bündner Fuhrleute auch an mir rupfen. Zwar Trinker war ich nicht gerade und ging immer sehr sparsam mit des Vaters Geld um. Die Gelegenheiten aber und Verlockungen zu Trinkgelagen waren zu Zeiten eine zu grosse Versuchung für mich, als dass ich ihr hätte gänzlich widerstehen können.

Ausgelassene Bauern in einer Schenke um 1635

In Splügen geriet ich einmal unter die Klauen eines Trinkers, der mich aus lauter Wohlwollen zum übermässigen Trinken zwang. Ob bloss, weil er etwas aufladen wollte oder warum ist mir nicht recht klar, kurz, ich wurde tüchtig berauscht. Und so begab ich mich im strengsten Winter mit zwei Einspännern singend und johlend auf den Weg. Wie ich heim kam weiss ich nicht. Tausend Mal hätte es fehl gehen können. Ich weiss nur, dass ich die mit Mehlsäcken schwer beladenen Schlitten vor das Magazin eines Mehlhändlers führte und vor dem auf der Türe erscheinenden Kaufmann umfiel. Man trug mich in das Haus. Die Eltern gaben mir etwas ein worauf ich einschlief und bis zum späten Morgen nicht erwachte.»

Heute

Von Bedeutung für das Schamsertal und Andeer war auch der Bau der Nationalstrasse A13 und des San Bernardino Strassentunnels. An diesem Tunnel, der die wintersichere Nord-Südverbindung ermöglicht und eine Länge von 6,6 km aufweist, wurde in den Jahren 1961 bis 1967 gearbeitet.

  1. Die Angestellten waren zwar eher mager entschädigt. Ein Postillion hatte einen Monatslohn von Fr. 100, später 150. Fürs Übernachten in Thusis oder Splügen bezahlte er aber auch nur 5 Rappen pro Nacht. Der Briefträger für den ganzen Schamserberg kam auf Fr. 900 pro Jahr, hatte aber auch sonntags den strengen Dienst zu leisten.

    Nebenbei bemerkt erforderte das Kutschieren mit vier- und fünfspännigen Wagen viel Geschick und Erfahrung. Die grosse Postkutsche, ein Achtplätzer, wurde bei uns meist von vier Pferden gezogen und nicht wie meist abgebildet mit fünf Pferden. Der Grund hierfür: Die Strassen wiesen zu viele zu eng und scharf gezogene Kurven auf.

  2. Jeder Säumer oder Fuhrmann, der Wein verfrachtete erhielt auf der_ Weg ein Legal Wein. Der Inhalt stand zu seiner Verfügung. Pro 100 l zu transportierenden Weins bekam der Fuhrmann in der Regel für sich einen Liter. Durch diese Massnahme sollte verhindert werden, dass auf der Fahrt die Fässer heimlich angezapft würden.
  3. Postpferdehalter waren in Andeer: Landammann Simon Simonett mit seinem Verwandten Marchion von der «Tgea Cotschna», später Philip Hoessli, «Mulegn», und zuletzt Gallus Fravi und dessen Sohn Oberstleutnant Jakob Fravi. (Unterdorf)
  4. Mitgeteilt von Herrn J.J. Fravi-Andrea, Sohn des letzten Postpferdehalters.