Als politische Geisel verschleppt

Im Juli 1798 fand in Graubünden eine Abstimmung statt, ob sich die Drei Bünde (später Graubünden genannt) an die Schweiz anschliessen sollten oder nicht. Nur 11 von 63 Gemeinden oder Gerichte sprachen sich für den Anschluss aus. Besonders nachdrücklich geschah dies in Andeer und den beiden Ferreras.

In weiser Voraussicht hatte Matli Conrad wohl die Zeichen der Zeit erkannt und war für den Beitritt eingestanden. Auf die Dauer hatten die Drei Bünde nach seiner Überzeugung keine Aussicht als selbständiges Staatsgebilde weiterhin zu bestehen. Für Matli Conrad selbst, wie auch für eine Reihe gleichgesinnter, führender Männer im Kanton, hatten ihre Stellungnahmen für den Anschluss harte und böse Folgen. Darüber gibt eine Eintragung im Kirchenbuch Aufschluss:

«Ein begründetes Bewusstsein seine Pflicht erfüllt zu haben ist unter allen Umständen auch bei bittersten Leiden und ungerechtesten Verfolgungen die süsseste Beruhigung.

Diese trostreiche Wahrheit erquickte und beruhigte mich, Matli Conrad, hier in Andeer seit 1767 bis 1799 gewesener Pfarrer in der schrecklichen Verfolgung, als ich 1799 den 17. März durch kaiserliches Militär, nämlich vier schwarze Wallache, von der damaligen sauberen bündnerischen interimal Regierung in Chur hierher gesandt von meiner lieben Gemeinde und Familie entführt wurde. [1] Dieses traurige Schicksal traf auch 85 andere Bündner, worunter 12 der vornehmsten Pfarrer aus dem Gotteshausbund und X Gerichten-Bund reformierter Konfession, nebst einem Disentiser Benediktiner Mönch sich befanden. [2] Der kaiserliche und französische Faktionsgeist wütete unter den bündnerischen Parteien während dem Kriege gräulich rasend.

Anmerkung: Die «Kaiserlichen» waren die Österreicher. Napoleon krönte sich dann später, am 8. Dez. 1804 ebefalls zum Kaiser.

Die Franzosen, nachdem sie die kaiserlichen Truppen die 1798 im Oktober in Bünden eingerückt waren, aus unseren Gegenden 1799 im Februar und März vertrieben, deportierten in der nämlichen Zeit ungefähr 60 kaiserlich gesinnte Bündner nach der Schweiz und Frankreich (Aber dennoch keine Pfarrer). Weil die meisten dieser Deportierten den Bauernaufstand gegen die Franzosen erregt hatten. Als aber die Kaiserlichen im Mai der rätischen Gegenden wieder Meister wurden, so deportierten dieselben die obigen 85 nebst mir nach Innsbruck im Tirol unter dem Titel als Gegengeiseln für die bemelten [erwähnten] 60 nach Frankreich Deportierten, laut der von Prinz Carl selbst an uns geschriebenen Erklärung. Man hielt uns 15 Monate lang in Innsbruck noch ziemlich gut. 30 Kreuzer war unser tägliches Gehalt. Den 5. Sept. 1800 liess der kaiserliche Gouverneur daselbst Graf von Bissing durch einen Commissar von Innsbruck namens Pini von unserer Gesellschaft, die andern waren zum Teil nach Hause gelassen, zum Teil entflohen, durch Tirol, Bayern, Oberösterreich und Steiermark in 20 Tagen bis nach Grätz [Graz] in die Steiermark führen allwo wir 5 Monate blieben. und von vielen Einwohnern freundschaftlich aufgenommen wurden. Endlich nachdem ein Waffenstillstand bei Vells unter dem Prinz Carl und dem französischen General Moreau beschlossen war, so wurde uns zuletzt im Jenner 1801 unsere Entlassung durch den General Melas und den grätzischen Gouverneur Graf von Veldsberg angekündigt. Wir wurden den 5. Februar von da durch Krain, Kärnten und Tirol von einem kaiserlichen Kommissar bis auf den Adlerberg auf Vorstau mit einem Reisegulden tägliches Reisegeld geführt.

Den 24. November kam ich endlich hier glücklich an. Zwei Jahre hernach war ich Pfarrer in Serneus im Prättigau und ein Jahr auf Mathon. Während der Zeit predigte hier Bartholomeus Caprez von Trins, nachdem aber dieser 1804 den Maimarkt in Chur verliess und auf den dasigen Grenzen als ein unglücklicher Reiter von seinem eigenen daselbst gekauften Pferd fiel, ein Bein brach und nach 8 Tagen darauf starb, so wurde ich von der hiesigen Gemeinde wieder als Pfarrer an genommen und zu Filisur von der Synode bestätigt».

Von wilden Wölfen ward ich als ein Hirt
Der Herde zwar als Raub entführt,
Doch durch die weise Himmelsleitung
Ward ich ihr wieder zugeführt.
1804, den 20. Juni, Matli Conrad

Es sei noch ergänzt, dass die Gemeinde Andeer die Abwesenheit ihres geschätzten Pfarrers nur schwer ertrug und während seiner Gefangenschaft verschiedentlich Bittschriften an die zuständigen Amtsstellen und auch an hohe Persönlichkeiten gerichtet hatte, um die Freilassung zu erreichen. Der Erfolg blieb aber versagt.

Wie oben geschrieben predigte bei seiner Rückkehr ein anderer auf der Andeerer Kanzel. Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit berief dann die Gemeinde ihren früheren und bewährten Seelsorger. Gerne folgte dieser diesem Ruf und es war ihm vergönnt, noch 28 Jahre lang in Andeer zu verbringen, 24 hievon als amtierender Pfarrer und weitere 4 im Ruhestand.

Matli Conrad hatte eine sehr gesunde Natur und nach seinen eigenen Angaben war er ein einziges Mal krank gewesen, sonst immer gesund, heiter und munter. Er erlag an Altersschwäche am 26. Dez. 1832 als 88-jähriger Greis.

Als die Kunde seines Ablebens im Dorf verbreitet wurde, war sich die Einwohnerschaft bewusst, dass etwas verloren gegangen war, das zu Andeer gehört und sogar dasselbe weitgehend mitgeformt hatte.

Das Lebenswerk solcher Männer wie Matli Conrad, sollte für uns heutige oft verzagte und gleichgültige Menschen wegweisend sein.

  1. In Andeer wurde auch Podestad Christian Pitschen verhaftet und als Geisel nach Österreich verbracht.
  2. Dieser Pater war Placidus a Spescha, der sich wie Matli Conrad ebenfalls für den Anschluss Bündens an die Eigenossenschaft eingesetzt hatte. Placidus a Spescha war ein grosser Naturfreund und Forscher.