Pfarrer Matli Conrad, der jüngere

Nun war aber von allem Ser Matli Conrad, der jüngere, nicht nur Seelsorger, sondern noch manches andere mehr. [1] Ja, er kann füglich als der bedeutendste und vielseitigste Mann bezeichnet werden, der in Andeer gelebt hat. Begabt und belesen wie er war, setzte er seine Kenntnisse und Erfahrungen gerne in den Dienst der Allgemeinheit. Ihm war auch die seltene Gabe zuteil, mit jeder Art von Menschen zu verkehren. Er war weit über die Grenzen unseres Tales hinaus als unbeugsamer Verfechter der romanischen Sprache und Kultur bekannt.

Er machte sich zudem einen Namen als Förderer des Schul- und Armenwesens und als Verfasser von Andachts- und anderer Bücher.

Er trat für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung unseres Volkes ein und begrüsste die sich anbahnende Zeit der «Aufklärung». Wobei er sich bewusst war, dass nicht alle Neuerungen von Gutem waren. Er warnte vor Luxus, übermässigem Alkoholgenuss und Müssiggang. Das Andenken dieses Mannes zu erhalten, ist deshalb unsere Pflicht. [2]

Pfarrer Matli Conrad (schrieb sich auch Conradi) ist am 15. Januar 1745 in Andeer geboren. Seine Eltern waren Friedrich Conrad Matli von Andeer und Ursula Cantieni von Pignia. Nach Abschluss seiner Schulung in Chur und Zürich wurde Ser Matli mit 21 Jahren in die Rätische Synode aufgenommen. Bereits im folgenden Jahre, 1767, wählten ihn die Gemeinden Andeer und Pignia zu ihrem Pfarrer. Abgesehen einer unfreiwilligen Unterbrechung von fünf Jahren war er 57 Jahre ein treuer Diener seiner Heimatgemeinde. Er taufte hier an die 800 Kinder und hielt annähernd so viele Abdankungen.

Ser Matli heiratete mit 29 Jahren Christina Sprecher, eine liebenswerte Tochter von Davos. Aus ihrer Ehe gingen 7 Kinder hervor. Drei davon starben im Kindesalter. Von den vier verbliebenen, alles Söhne, segneten nur zwei das Zeitliche in Andeer, ohne jedoch Nachkommen hinterlassen zu haben. [3]

In den vorangegangenen Kapiteln über Kirche, Armen- und Schulwesen usw. wurde des Öfteren die Tätigkeit von Ser Matli lobend hervorgehoben. Eine ausführliche Wiederholung erübrigt sich. Zusammenfassend sei erwähnt, dass während seiner Amtszeit, sowohl beim Antritt wie bei seinem Rücktritt, die Kirche renoviert wurde und ebenso in den Jahren, da Andeer Synodalort war.

Pfarrer Conrad war musikalisch veranlagt und vermisste eine Orgel in seiner Kirche. Seine Bemühungen eine solche zu erwerben, fruchteten aber nicht.

Mehr Erfolg hatte er als Verfasser von Chorälen, von Andachts- und Kinderbüchern. Sein Choralbuch, das grösstenteils aus dem Deutschen übersetzte Lieder enthielt, war sehr beliebt und stand noch viele Jahre nach seinem Ableben in Gebrauch, so auch in Andeer. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Text und Melodie des gern gesungenen Volksliedes «A Culm» von Matli Conrad stammen.

Im Kirchenbuch unserer Gemeinde berichtet Ser Matli, wie das Reformationsfest gefeiert wurde:

«Zum Andenken an die Nachwelt schreibe ich, Matli Conrad, jünger, hier, auf welche Art das hundertjährige oder säkular Fest der Reformation, so zum dritten Mal, 1819, im Anfang dieses Jahres gefeiert worden sei:

«Sobald das zweite Zeichen geläutet hatte, versammelte sich das hiesige Volk und auch die von Pignia kamen vor das Schulhaus. Jetzt gingen alle paarweise in die Kirche. Zuerst liess ich die Schüler und Schülerinnen mit ihrem Lehrer vorangehen darauf die erwachsenen ledigen Töchter, dann die Frauen, alle mit schwarzen Kleidern und weissen Halstüchern und darauf vier Geistliche, dann ein Kirchenvogt mit dem alten, der zweite mit dem neuen Testament und ein Geschworener mit einem silbernen Nachtmahls Kelch. [4] Nach diesem kamen die erwachsene männliche Jugend und zuletzt die übrigen Männer, auch alle schwarz gekleidet. Die Bibel und der Becher wurden auf den Altar der Kirche gestellt. Rings um denselben waren die singende Jugend, 5 Violinisten und ein Bassgeigenspieler. Diese sangen und spielten vortrefflich die von mir verfassten deutschen und romanischen Reformationslieder in Choralmelodien vor und nach zwei gehaltenen Predigten Die erste hielt ich über die geschehene Glaubens- und Kirchenverbesserung, ihre glücklichen Folgen und von der Verbindlichkeit Gott dafür.

Die zweite Ansprache wurde von Florian Walter, damaliger Jugendlehrer allhier gehalten. Ihr Inhalt war die Schönheit, die Heilsamkeit des durch die Reformation wieder eingeführten reinen Christentums.»

Wie bereits schon dargelegt, war die Verbesserung des Schulwesens ein besonderes Anliegen von Matli Conrad. Zeitweilig richtete er selbst eine Privatschule ein, womit er den Zweck verfolgte, die Kenntnisse lernbegieriger bereits der Schule entlassener Jugendlicher, zu vertiefen.

In Ermangelung romanischer Lehrmittel scheute Pfarrer Conrad weder Mühe noch Kosten, solche selbst zu schaffen. Er verfasste ein Taschenwörterbuch und eine Grammatik und für die Kinder eine Fibel. Den Religionsunterricht erteilte er stets in der angestammten Muttersprache und predigte wohl nur höchst selten einmal in deutscher Sprache.

Seine vielseitigen geistigen und kulturellen Interessen öffneten ihm den Weg zu Gelehrten des In- und Auslandes. Seine Beschreibung des Schamsertales, oft erwähnt, ist auch heute noch sehr lesenswert. Dieser Aufsatz hatte zur Folge, dass das Schamsertal und seine Bewohner weiten Kreisen nähergebracht wurden.

Wie einsatzbereit, natur- und volksverbunden unser damaliger Pfarrer war, möge eine Episode veranschaulichen, die er selbst im eben erwähnten Aufsatz über das Schamsertal dargelegt hat.

«Während der grossen Trockenheit im Juni 1793 entstanden zwischen den Bannwäldern von Pignia und Andeer verschiedene Waldfeuer, welche um sich griffen, ohne dass man sich darum kümmerte. Der Pfarrer dieses Ortes (der Verfasser) konnte dabei nicht gleichgütig sein, allein seine Vorstellungen fanden kein Gehört, oder wurden mit der Behauptung beantwortet: Das Feuer sei schon zu gross, kein menschliches Mittel könne mehr helfen. Ich weiss ein solches, erwiderte er, man biete die Gemeinde auf, die Männer schaffen das stehende Holz weg, die Weiber und Töchter bilden Reihen mit Eimern und löschen aus der benachbarten Quelle das Feuer. Endlich genehmigte man diesen Versuch. Der Geistliche ging voran und die ganze Gemeinde folgte nach, unter mancher Verspottung seines Rates. Allein als sie an Ort und Stelle ihn befolgten, gelang es dem Feuer Einhalt zu gebieten und es zu löschen. So wurde diese grosse Waldung, das Dorf und die Maiensässe gerettet, während der Bannwald von Pignia bei verspäteten Hilfsanstalten grösstenteils aufloderte.»

Die Bedeutung der Wälder war ihm als grossen Naturfreund bekannt. Seine Bemerkung: «Holzausfuhr gestattet uns zum Glück der enge Viamala Pass nicht» zeugt von der durchaus richtigen Einschätzung der allzu materialistischen Mentalität gar mancher seiner Landsleute, die gerne die Waldungen gelichtet und versilbert hätten.

Hingegen war Conrad ein überzeugter Befürworter der Rodung «Pessen» zwecks Schaffung von mehr Gemeindelöser. Die Verwirklichung dieses Planes geschah aber erst Jahre nach seinem Tode.

  1. Vergl. «Ser Matli Conrad, il giuven 1745- 1832» von Giachen Conrad Andeer/Chur. Annalas della Societad Retoromontscha, Annada 34 und «Calender Per Mintga Gi» 1967 «Sear Matli Conrad» Beiträge von verschiedenen Autoren.
  2. Zu Ehren des Verfechters des Romanentums wurde seiner im «Curtgin d’anur» zu Truns mit einer Gedenktafel gedacht. – In Andeer fand eine schlichte Feier zur Erinnerung an Matli Conrad im Jahre 1967 statt, und zwar auf «Cagliatscha».
  3. Trotz entgegengesetzter Behauptungen leben heute in Andeer keine Nachkommen von Ser Matli Conrad. In der oben zitierten Veröffentlichung von Giachen Conrad wird dies ebenfalls bestätigt.
  4. Bei den vier Geistlichen handelte es sich ausser um Pfarrer Matli Conrad wohl noch um Pfarrer Anton Cantieni von Pignia, Pfarrer Ludwig Bisaz von beiden Ferreras und Pfarrer Jodocus Hosang von Zillis.