Dieser war weltoffener und gebildeter als sein Vater. Die Studien begann er auf der Kantonsschule in Chur und setzte diese, bis zu seiner Aufnahme in die Synode zu Davos im Jahre 1857, in Basel und Halle fort.
Im Gegensatz zu seinem Vater, der von auswärts nach Andeer kam, war Ser Juli, wie er genannt wurde, tief im Schamserboden verwurzelt. Die gleiche Verbundenheit zu Volk und Heimat war auch seiner Lebensgefährtin eigen, die aus der geachteten Familie Fravi stammte. Pfarrer Lutta erkannte den Wert der Muttersprache und bejahte deshalb die Anstrengungen zur Erhaltung derselben. Freilich war sein Einfluss im Dorfe in dieser Hinsicht nicht ausreichend, um sich durchzusetzen. Er schreibt im Kirchenbuche, dass bereits in den 1870er Jahren die deutsche Sprache im Schul- und Religionsunterricht vorherrschend geworden sei. Dies sei aus Rücksicht auf eine Anzahl deutschsprachiger Familien und Einzelpersonen so gekommen. Des Weiteren sei von oben her (gemeint Kanton) mit Macht auf die Beseitigung der romanischen Sprache gedrungen worden, wobei der Mangel an romanischen Schulbüchern auch noch wacker beigetragen habe.
Seit 1896 werde jeden zweiten Sonntag deutsch gepredigt, während früher dies nur jeden dritten Sonntag der Fall war.
Um das Romanische sei es in mancher Hinsicht Schade. Es diene bekanntlich zur Erlernung anderer, verwandter Sprachen. Graubünden als aufkommendes Reise- und Ferienland mit Gästen aus aller Herren Länder benötige sprachkundige Leute. Es wäre deshalb wünschenswert, die rätische Sprache neben der deutschen zu erhalten.
Wie takt- und rücksichtslos oft vorgegangen wurde, beweist der Fall Innerferrera. Diese kleine Gemeinde sollte auf Anordnung höherer Instanzen nicht mehr von Andeer, wie bisher, sondern vom weit entfernten Avers aus, kirchlich betreut werden. Dieser Machtspruch stempelte die Gemeinde des Schamsertales in kirchlicher Hinsicht zu einem Anhängsel eines deutschsprachigen Tales.
Pfarrer Lutta, Sohn, wehrte sich vehement gegen die Änderung des früheren Zustandes und unterstrich, dass die Bevölkerung von Innerferrera romanisch sei und Deutsch in keiner Weise genügend kenne, um Predigt und Unterricht in einer anderen als ihrer eigenen Muttersprache zu verstehen.
Aber der Rufer in der Wüste wurde nicht beachtet.
Ser Juli war während 53 Jahren als Pfarrer tätig. Andeer war aber nicht seine erste Wirkungsstätte, sondern von 1858 bis 1862 die Gemeinde Mutten, wo er als der letzte Pfarrer dieser kleinen Ortschaft amtete. Von dort aus betreute er 1862/63 auch die Pfarrei Donath.
Drei Jahre nach seiner Verehelichung im Jahre 1859 siedelte die Familie Lutta nach Modena um, wo die deutschsprachigen Protestanten dieser Stadt sowie auch diejenigen von Reggio und Bologna einen Pfarrer benötigten. In Italien war erst vor kurzem die freie Religionsausübung gestattet worden. Im südlichen Nachbarland verblieb Pfarrer Lutta 7 Jahre und folgte dann dem Ruf seiner Heimatgemeinde, um die, infolge Rücktritts seines alternden Vaters, freigewordene Pfarrstelle zu übernehmen.
Seine berufliche Inanspruchnahme schildert Lutta folgendermassen: 1869 sei er seinem Vater im Kirchendienste in Andeer und Pignia gefolgt und habe zusammen mit Pfarrer Luzius Candrion (Candrian) von Zillis auch Ausserferrera, später sogar Innerferrera versehen. In den Jahren 1881 bis 1885 habe er zusätzlich Zillis betreut und dort dreimal monatlich gepredigt und im Winter den Religions- und Konfirmandenunterricht erteilt. Im Laufe eines einzigen Jahres habe er damals 48 Bestattungen übernehmen müssen.
Trotz dieser grossen Inanspruchnahme in anderen Gemeinden liess Pfarrer Lutta den Gottesdienst weder in Pignia noch Andeer jemals ausfallen. Zu seiner grossen Freude wurde im Jahre 1895 der fahrbare Weg nach dem Avers eröffnet. Von da an konnte er die beiden Ferreras mit Fahrzeug müheloser und schneller erreichen als früher zu Fuss. Der kleine Schlitten, den er im Winter benutzte, ist noch in bestem Zustande erhalten.
Bekanntlich setzte im 19. Jahrhundert eine Bewegung ein, die gegen die Kirche eingestellt war und vorerst auf die Trennung von Kirche und Staat hinzielte.
Auf Grund der neuen Bundesverfassung von 1874 wurde die offizielle Führung der Geburts-, Ehe- und Todesregister den Zivilstandsämtern übertragen. Diese Umstellung bedeutete eine weitgehende Entmachtung der beiden Landeskirchen. Diese sollten überhaupt ganz auf sich selbst gestellt werden und keinerlei Unterstützung durch Gemeinde und Staat bekommen. «Trotz Anfeindungen und Verunglimpfungen mancherorts haben die Kirchen die Probe bestanden», schreibt Pfarrer Julius Lutta. Der Volkswille sei für den Weiterbestand seiner Kirchen und für die christliche Erziehung der Jugend in den Schulen. Auch das Studium der Theologie habe an Ansehen gewonnen, sodass die Pfarreien wieder durch einheimische Kräfte besetzt werden könnten, was sehr zu begrüssen sei. Der zeitweilige Mangel an eigenen Theologen habe zur Aufnahme von allerlei zugeströmten Elementen geführt.
Durch die eben beschriebenen Tendenzen wurde die Kirche in unserem Dorfe und ihrer Diener nicht stark in Mitleidenschaft gezogen. Ser Juli war eine Respektperson, mit sich selbst streng, forderte er auch von den anderen eine treue Pflichterfüllung.
Es wurde ihm zwar oft nachgesagt, dass er sowohl als Pfarrer wie als Kassier der Armenbehörde nicht besonders spendierfreudig gewesen sei. Von Haus aus war er zu grösster Sparsamkeit gezwungen. Sein Gehalt betrug einschliesslich Ertrag der Pfrundgüter rund 1,200 Franken im Jahr. Dem heutigen allzu sozial eingestellten Denken und Handeln wäre er bestimmt abhold gewesen. Seine Auffassung war die, dass jeder in erster Linie sich selbst zu helfen habe. Wenn aber jemand seiner Hilfe würdig erschien, so half er gerne mit Rat und Tat. [1]
Ser Juli war ein kräftiger Mann und besass eine gesunde Natur. Er war fähig, den 170 Kilo schweren Ambos in der Schmiede Pedrett zu heben, was nur wenige ihm nachtun konnten. Körperliche Strapazen überwand er mühelos bis ins hohe Alter.
Er war auch ein gemütlicher, humorvoller und unterhaltender Gesellschafter. Gerne gab er Erinnerungen aus dem Alltag eines Pfarrers zum Besten. Einiges davon ist auch heute nicht vergessen. Hier ein Beispiel:
Einem Dorforiginal, der jeden Rappen in gebrannte Wasser umwandelte, ermahnte Pfarrer Lutta, nachdem jener ihm sein Brennholz vor dem Hause aufgearbeitet hatte: «Hier hast du den Lohn für deinen Fleiss. Tut es dir nicht leid, dieses schöne Geld mit Schnaps zu vertun?» Der Angesprochene meinte offenherzig: «Keineswegs, das Geld ist rund gemacht, damit es rollen kann und wenn andere es nicht rollen liessen, hättest du auch keins!»
Pfarrer Julius Lutta starb 78-jährig nach kurzer Krankheit am 11. Januar 1911. Die Nachricht von seinem Tode löste allgemeine Trauer im Dorfe aus aber auch bei seinen vielen auswärtigen Bekannten und Amtsbrüdern. Aus dem Beileidschreiben von Prof. Leonhard Ragaz in Zürich an die Hinterbliebenen seien einige Gedanken wiedergegeben:
«Die Nachricht vom Heimgang Ihres lieben Vaters. hat mich sehr bewegt, denn sein Bild ist mir immer teuer gewesen. Ich habe stets seine Weisheit und väterliche Güte hochgeschätzt und bin ihm auch dankbar gewesen für die freundliche Gesinnung, die er mir immer erwiesen hat.
Freilich tröstet uns ja der Gedanke, dass er so rüstig und klar bis ins hohe Alter sein Tagewerk tun und mitten aus der Arbeit weggehen durfte. In diesem Bilde wird er stets segnend und erquickend vor Ihnen und uns stehen.»
Seine letzte Ruhestätte fand Ser Juli neben dem Grabe seines Vaters inmitten der vielen hundert Dorfgenossen, die ihnen im Tode vorausgeeilt waren und welche die beiden Pfarrer Lutta getauft, konfirmiert, getraut und zu Grabe geleitet hatten. [2]
- Meinem Vater, Ivan Ragaz, stellte er bereitwillig das Reisegeld zur Verfügung, um nach Kalifornien auswandern zu können. Für diese Hilfe ist der Empfänger seinem einstigen Pfarrer und Nachbar stets dankbar gewesen. ↑
- Vergl. auch Artikel im «Calender Per Mintga Gi» 1956 von Pfarrer J. Michael: «Julius Lutta, Bab e fegl. Pardicants d’Andeer 1828 – 1911» ↑