Julius Lutta, Vater

Es gibt Familien, bei welchen über mehrere Generationen hinweg die gleiche berufliche Tätigkeit ausgeübt wird. Eine solche war diejenige der Lutta, ursprünglich in Flond beheimatet, und deren männliche Angehörige mit Vorliebe das Studium der Theologie wählten. In Flond selbst hat ein einziger Pfarrer namens Lutta gewirkt und auch dies nur während eines Jahres. [1] Im Laufe der Zeit wurden dann mehrere seiner Nachkommen in die Synode aufgenommen, zwei davon Julius Lutta, Vater, und dessen Sohn, gleichen Namens waren in Andeer tätig.

Julius Lutta, Vater, wurde zunächst nach Nufenen gewählt und anschliessend 1828 nach Andeer. [2] Für seine Wahl sprach der Umstand, dass er die romanische Sprache beherrschte und wohl manchem Andeerer kein Unbekannter war. Wahrscheinlich hatte er auch nähere Beziehungen zu seinem Vorgänger, Matli Conrad, sodass auch dieser sich für die Wahl Luttas eingesetzt haben wird.

Zu meiner Jugendzeit sprachen alte Leute mit Hochachtung und Anerkennung über den einstigen Pfarrer Lutta, Vater. Als einen Ausdruck der allgemeinen Wertschätzung kann wohl auch die geschenkte Verleihung des Bürgerrechts an ihn und seine Familie angesehen werden, die bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt in Andeer erfolgte!

Nun war Lutta aber keineswegs mit der kraftvollen und vielseitigen Person seines Vorgängers zu vergleichen. Ihm fehlten auch dessen Begabung, Weitblick und Umgangsformen.

Während 41 Jahren versah Lutta den Pfarrdienst in unserer Gemeinde und machte sich mit Land und Leuten vertraut, obwohl er stets sich selber treu blieb. Sich anzupassen oder zu verändern, waren Eigenschaften, die er kaum besass. Er war und blieb der strenggläubige, weitgehend intolerante und oft starrköpfige Dorfpfarrer.

Als ein Erbstück seiner surselvischen Heimat – wo die Gegensätze zwischen Konfessionen tief und unerschütterlich fest sassen – kann Luttas heftige Abneigung gegen die katholische Kirche verstanden werden. Hierüber machte er auf der Kanzel und im Unterricht nie ein Hehl.

Für Luttas eher alttestamentarische, unduldsame Glaubens- und Lebensauffassung legt seine Ansprache an das Volk am 14. April 1831 auf dem Richtplatz in Zillis nach der letzten Hinrichtung in Schams ein beredtes Zeugnis ab. Von der Lehre Christi enthält diese Predigt eher wenig. Dass seine Einstellung dem damaligen Zeitgeist entsprochen habe, mag teilweise richtig sein. Immerhin drückte, die gleichen Tags und gleichen Orts vorgetragene Rede des Landrichters J. P. von Marchion (Martschun), einen milderen Geist aus. Diese letzte Hinrichtung in Schams wurde von Pfarrer Lutta, Vater, im Konfirmandenunterricht immer wieder erörtert. Drohend warnte er seine Schüler, vom Glauben abzuweichen und mahnte sie, die Gebote Gottes zu beachten und an das traurige Schicksal des seinerzeit Hingerichteten zu denken.

Die letzte Hinrichtung im Schams
Die Hinrichtung des Moriz Grischot
Im folgenden Dokument im PDF Format ist sowohl ein kurzer Lebenslauf des Hingerichteten, das Gerichtsurteil und die Ansprachen des Landrichters J.B. Marchion und des Pfarrers Lutta. Das Dokument umfasst 26 Seiten. Das Dokument ist in gut lesbarer gothischer Schrift wiedergegeben.

Als Vorsteher der Schule war Pfarrer Lutta für die peinliche Einhaltung der Schulordnung besorgt und die bessere Ausbildung der Jugend erachtete er als ein Gebot der Zeit. Er verlangte im Unterricht die volle Aufmerksamkeit der Kinder. Es wurde damals zwar vieles auswendig gelernt, namentlich im Religionsunterricht, ohne den Sinn des Gelernten immer zu verstehen. Trotz allem blieb aber manches für spätere Jahre im Gedächtnis haften.

Seine Stellung als Pfarrer machte er besonders dann geltend, wenn versucht wurde, an der Autorität der Kirche und seiner Diener zu rütteln. Wer allzu oft den Gang zur Kirche versäumte, wurde an seine Pflichten gemahnt. Nach Luttas Auffassung sollte sich die Dorfjugend mit zwei Tanzanlässen im Jahre begnügen und zeitweilig gelang es ihm auch, dies durchzusetzen.

Seinen Grundsätzen blieb er selbst beispielhaft treu und ergeben. Ein Zeugnis von Mut legte Lutta anlässlich der Synode in Malans ab. Es wird von Donatus Joos geschrieben:

«Ich lernte ihn (Pfarrer Lutta, Vater) teilweise schon damals als einen Mann kennen, der, so phlegmatischer Natur er auch war, für die Ehre seines Gottes entschieden einstand. Er klagte, dass auf den Synoden die wenigen Herren der positiven Richtung sich von der grossen Zahl Rationalisten zu sehr einschüchtern lassen und nicht genug für die Göttlichkeit der Bibel einstehen.

Auf einer solchen Zusammenkunft von Geistlichen lächelte man über seine Verteidigung des biblischen Glaubens und niemand wagte die Wahrheit in Schutz nehmen zu wollen. Einer meinte gar, er sollte doch endlich die Vernunft brauchen und nicht so hartnäckig veraltete jüdische Fabeln glauben.

Der gute Herr Pfarrer Lutta erhob sich aber, fasste die Versammlung fest ins Auge, schüttelte seine Mähne und sprach mit Nachdruck: «Meine Herren, es scheint mir, ihr meinet, allein alle Weisheit eingefressen zu haben.»

Keiner wagte mehr zu spotten.

Neben seiner Energie konnte er, wenn’s seine eigene Person anging, eine Sanftmut und Geduld beweisen, worüber man nur so staunen musste. Oft muss ich nachdenken, wie ich ihn damals einmal beim Lehrer ein Schächtelchen Streichhölzchen vom ersten bis zum letzten ohne für seinen Tabak Feuer zu bekommen, immer sich gleich bleibend, immer mit derselben Ruhe, nicht den geringsten Unwillen, die geringste Gemütsbewegung verratend, anstreichen sah, wobei er nicht unterliess, bei jedem Zündhölzchen den Deckel des Schächtelchens wieder zuzumachen. Auch seine Predigten so kraftlos die meisten auch zu sein schienen, hörte ich nicht, ohne einen gesegneten Eindruck zu empfangen. Von mehr als einmal weiss ich, wie ich geschlagen und voll guter Vorsätze aus der Kirche kam.» [3]

Treue Pflichterfüllung war sein oberstes Gebot. Es muss ihn besonders schmerzlich berührt haben, als infolge Schwächung des Augenlichts und besonders des Gehörs die Erteilung eines geordneten Unterrichts kaum noch möglich war. Die Jugend – namentlich die grösseren Knaben – nutzten diese seine Altersschwächen weidlich aus und trieben mit dem guten Pfarrer allerhand Schabernack.

Im Jahre 1869 reichte Lutta seine Rücktrittserklärung ein mit der Begründung, er könne seiner Beschwerden wegen nicht mehr die Schulkinder richtig unterweisen. Vier Jahre später starb er im Alter von 81 Jahren.

Welche Einstellung hatte Pfarrer Lutta, Vater, zur romanischen Sprache? Eine Antwort ist nicht leicht.

Das Schamserromanisch hat er jedenfalls nie gelernt und stets Oberländerromanisch gesprochen, dabei mögen manche seiner Ausrücke sowohl auf Deutsch wie Rätoromanisch für viele ungewohnt und archaisch vorgekommen sein.

Im Winter predigte Lutta durchwegs romanisch und im Sommer – mit Rücksicht auf die Kurgäste – deutsch. Zeitweilig wurde auch an zwei Sonntagen nacheinander auf romanisch und am dritten Sonntag auf Deutsch Gottesdienst gehalten. Ob Lutta selbst diese Regelungen durchsetzte, ist nicht genügend bekannt, jedenfalls hätte er gegen die Einführung der deutschen Sprache in Schule und Kirche keinen Einspruch erhoben. Möglicherweise war er auch überzeugt, dass das Romanische auch ohne Pflege desselben sich erhalten könnte. Diese Auffassung wurde auch etwa von anderen Leuten im Dorfe vertreten.

Man wird jedenfalls kaum fehl gehen, anzunehmen, dass Pfarrer Lutta, Vater von der Überlegenheit der Deutschen und des Deutschtums fest überzeugt war.

Ob er etwa in Deutschland studiert hat und bereits in jungen Jahren für die deutsche Sprache und Kultur sich begeisterte, ist nicht feststellbar. Anlässlich des deutsch/französischen Krieges 1870/71 verfolgte er mit grösster Aufmerksamkeit die Geschehnisse und die deutschen Siegesmeldungen erfüllten ihn mit grosser Genugtuung.

Seine Vorliebe für das Deutsche zeigte sich auch darin, dass er in Abweichung der damals gültigen Regelung seinem Sohne den Konfirmandenspruch auf Deutsch statt auf romanisch schrieb.

Im Jahre 1829 soll Vater Lutta anlässlich einer Lehrerkonferenz in seiner Eigenschaft als Präsident derselben den Antrag gestellt haben, man möge in Schams den romanischen Unterricht in den Schulen durch den deutschen ersetzen. Damit kam er aber nicht durch.

Trotz alledem hat Pfarrer Lutta, Vater, Verdienste um das Romanische. Dies geschah wohl oft ohne Überzeugung und ohne es zu wollen, weil er die angestammte Sprache immer wieder anwenden musste und dies sowohl in der Kirche, in der Schule wie im täglichen Umgang. Nolens volens hat er somit mehr für die Erhaltung des Romanischen in unserem Dorfe getan, als gemeinhin angenommen wird. [4]

  1. Dieser Leonhard Lutta geb. zu Flond 1759 hatte drei Söhne, die alle drei den Pfarrerberuf wählten. Sie hiessen: Julius (Andeer), Moritz (Ilanz) und Matheus (Ponte)
  2. An anderer Slelle wurde auf die Verdienste der Luttas in Andeer in Sachen Förderung der Landwirtschaft hingewiesen.
  3. Aus der Lebensbeschreibung von Donatus Joos.
  4. Gemeinsam hat Pfarrer Beat Liver mit Julius Lutta, Vater, das Katechismus von Franz Walter ins romanische übertragen und somit hat Lutta Senior beigetragen ein taugliches Lehrmittel für unsere Schulen zu schaffen.